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36 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1917.)
Dasein, der im Sinne Haeckels gar nicht existiert, noch dazu ein
die Höherentwicklung bewirkender „züchtender Gott" — kein wirklicher
Gegensatz zwischen Mensch und Tier — alles und jedes
Übersinnliche ein „finsterer Aberglaube"! Diese platte, verbrecherisch
- leichtsinnige Weltanschauung propagiert zu haben,
muß in unserer Zeit, da die durch den Materialismus so sehr geförderte
moralische Verkommenheit in erschreckender Weise offenbar
geworden ist, ein niederschmetterndes Gefühl sein.
Aus der Schrift „Haeckel und seine Gegner" (Minden 1900),
mit der diese Propaganda fortgesetzt wurde, genügt es, den folgenden
zusammenfassenden Satz anzuführen: „Es gibt nur eine
Rettung aus dem Glauben an eine übernatürliche Weltordnung,
und das ist die monistische Erkenntnis, daß alle Erklärungsgründe
für die Welterscheinungen auch innerhalb des Gebietes dieser Erscheinungen
liegen." Das Wort „übernatürlich" hat hier selbstverständlich
die Bedeutung von „übersinnlich", d. h. über die Welt
der gewöhnlichen Sinne hinausgehend.
Im „Magazin" (1901 S. 1068) versucht Steiner zu zeigen,
inwiefern Haeckel die „Sprache der Wahrheit" rede. Zu diesem
Punkt möchte ich dringend die Lektüre von E. Dennerts Schrift
„Die Wahrheit über E. Haeckel" (Halle 1906, Volksausgabe,
75 Ptg.) empfehlen. In diesem schwerwiegenden Buche ist
aktenmäßig und unwiderlegt (die erste Auflage
erschien 1901) bewiesen, daß dem Naturforscher Haeckel von
kompetenten Seiten nicht nur bedenkliche Unwissenheit sogar in
zoologischen Dingen, sondern auch „Fälschungen und Doppelzüngigkeit
" vorgeworfen werden. Im Vorwort zur l. Auflage hatte
der von aufrichtiger Wahrheitsliebe erfüllte Dennert geschrieben:
„Man weise mir Irrtümer nach, ich werde dann mein Unrecht
gern eingestehen und etwaige persönliche Schärfe zurücknehmen."
1% Jahre später stellte Dennert in der 2. Auflage fest, daß es
Haeckel und Genossen nicht gelungen ist, auch nur einen einzigen
Irrtum nachzuweisen, sondern daß sie sich darauf beschränkten,
die Angriffe mit persönlichen Beleidigungen abzuwehren.
Das tollste an Haeckel-Kultus leistet sich Steiner aber damit,
daß er in der „Gesellschaft" (1900, 4. Bd. S. 8) sagt: „Haeckel
fand sich genötigt, einmal schonungslos mit allem abzurechnen,
was zu anderen, den seinigen widersprechenden Vorstellungen gehört
. Wer unbefangen urteilt, muß sich erhoben (!) fühlen durch
die mutige Konsequenz, mit der er diese Abrechnung im Kapitel
über „Wissenschaft und Christentum" vollzieht." Dazu muß man
wissen, daß Haeckel in diesem Kapitel nicht etwa nur mit dem
kirchlichen Christentum abrechnet, sondern auch die Entstehung
des neutestamentlichen Kanons in so herabwürdigender Weise bespricht
, daß mit Recht behauptet wurde, Haeckel verstehe vom
Christentum so viel wie der Esel von den Logarithmen. Wer „un-
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