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Kaindl: Ueber negativen und positiven Eudämonismus. 73
obigen Ausführungen Dührings ohneweiters einverstanden erklären
; nur wird er sich fragen müssen, wieso es kam, daß dritthalb
Jahrtausende vergehen konnten, ohne daß die Menschheit es
unternahm, die Tatsachen zu beseitigen, die dem Leben den Wert
rauben. Ein von mir schon in gleichem Sinne gebrauchtes Zitat
aus Lenau's Faust dürfte genügen, hierüber den richtigen Aufschluß
zu erteilen:
Faust (hier als Verkörperung des reinen Egoismus):
„Behaupten will ich fest mein starres Ich,
Mir selbst genug und unerschütterlich,
Niemand hörig mehr und Untertan,
Verfolg ich in mich einwärts meine Bahn."
Mephistopheles (hier als der Repräsentant des reinen Intellekts)?
..Ich aber diene dir als Grubeniicht".
Auch das folgende Zitat aus derselben Dichtung, in dem
wir die Unterdrückung des intuitiv erkennenden und altruistischen
Unterbewußter, durch das reflexiv erkennende und egoistische
Oberbewußte erkennen, gibt uns hierüber die nötige Aufklärung:
„In meinem Innern ist ein Heer von Kräften,
Unheimlich eigenmächtig, rastlos heiß,
Entbrannt zu tief geheimnisvollen Geschäften,
Von welchen all mein Geist nichts will und weiß.
Ho bin ich aus iijir selb-t hinausgesperrt."
Ist schon der Egoismus, als der der Selbsterhaitung des Indi-
uduums dienende Grundtrieb an und für sich ein gefährlicher
Feind individueller und sozialer Harmonie, so wird er durch den
ihm dienstbaren sophistischen Intellekt zu einer gradezu unheimlichen
Macht, unter deren Szepter jeder natürliche Antrieb zur
Harmonie erlahmt. Darum laßt auch Goethe seinen Faust mit
Recht klagen:
..O daß dem Menschen nichts Vollkommenes wird,
Empfind ich nun. Du gabst zu dieser Wonne,
Die mich den Göttern nah und näher bringt,
Mir den Gefährten, den ich schon nicht mehr
Entbehren kann, wenn er gleich kalt und frech,
Mich vor mir selbst erniedrigt, und zu Nichts,
Mit einem Worthauch, deine Gaben wandelt."
Wie soll sich überdies eine Menschheit zu der Tat aufraffen,
die lebensentwertenden Tatsachen zu beseitigest, wenn sie sich
die „Hauptgründe ihrer Verzweiflung am Leben" nicht einmal
einzugestehen wagt, wenn sie also die Selbsterkenntnis, die notwendige
Vorbedingung jeder Wandlung zum Besseren, furchtsamerweise
hintanzuhalten sucht, und ihre führenden Geister,
anstott sie aufzuklären, sie über den wahren Sachverhalt täuschen?
Darf man sich wundern, daß die Menschheit den Weg zum
wahren Glück verfehit, wenn ihr ein „Grubenlicht" voranleuchtet?
Darf man sich wundern, daß menschliche Disharmonie nicht
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