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76 Psychische Stadien. XLIV. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1917j
entgegengesetzt ist, sondern sie werden ihrer angestammten Tendenz
gemäß streben, sich wieder in Harmonie zu vereinen, und
so mit dei Zeit die Widerstände überwinden, die sich ihnen infolge
der Übermächtigkeit der egostischen Tendenz entgegenstellen.
Der Endzweck des Weltprozesses wäre demnach die Vereinigung
des Individualisierten zu einem harmonischen Ganzen und die Begründung
einer allgemeinen Glückseligkeit. Dieser positive Eudä-
monismus hat vor dem negativen Hartmann's den Vorzug, daß er nicht
wie dieser eine Vergewaltigung des individuellen Glücks Verlangens
zugunsten des Absoluten fordert, sondern, daß er in der Stillung
dieses Verlangens eine Förderung der Glückseligkeit des Absoluten
erblickt. Der Gesamtzweck des Weltprozesses wäre demnach die
Förderung der positiven Eudämonie des Absoluten durch die
Förderung der individuellen Eudämonie;-') und nicht, wie bei
Hailmarm, die Förderung der negativen Eudämonie des Absoluten
durch die Hingabe des Individuums an ein qualvolles Leben. In
der positiv-eudämonistischen Auffassung ist der Weltprozeß keine
trostlose Passionsgeschichte des im Fleische gekreuzigten Absoluten
, behufs seiner Erlösung aus unseligem Sein, wodurch Milliarden
von iühlenden Wesen in Unseligkeit gestürzt werden;
sondern die natürliche Folge der dem Glückseligkeitszustande des
Abfluten eigentümlichen Tendenz nach Ausdehnung. Vervie!-
fältigung und Vermannigfaltigung durch die in der Natur der
Sache begründeten und daher vollkommen zweckentsprechend erscheinenden
Mittel der Individualisation und Harmonisation. Im
Hinblick auf den Endzweck einer universalen Glückseligkeit darf
man de.i positiven Eudämonismus, im Gegensatz zu dem negativen
Eudämonismus Hartmanns, der die Unseligkeit durch völlige Vernichtung
(Annihilation) beseitigt, also den gordischen Knoten zerhaut
, anstatt ihn zu lösen, mit Recht als Optimismus bezeichnen.
Allerdings würde die Annahme, daß das Absolute durch das Endergebnis
des Weltprozesses in seiner Glückseligkeit gefördert wird,
in sich schließen, daß es darin durch die, durch den Individuali-
»ationsprozeß verursachten, hochgradigen Dissonanzen auch eine
entsprechende Beeinträchtigung erfahren muß, woraus sich ergeben
würde, daß jede Steigerung des Glückseligkeitszustandes
des Absoluten, ihm nur auf dem Wege einer temporären Unseligkeit
erreichbar ist. Mit Rücksicht darauf kann man die Auf-
foiderung Hartmanns, an der Abkürzung dieser Leidenszeit mitzuarbeiten
, was er als die vornehmste sittliche Pflicht des Menschen
betrachtet, auch vom Standpunkt des positiven Eudämonismus
gutheißen, um so mehr als ja dieses Ziel durch die Abkürzung der
Leidenszeit unserer Mitgeschöpfe erreicht werden soll, d. h. durch
u) In diesem Sinne sind auch die Worte Christi zu verstehen:
n Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan.1*
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