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78 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1917 )
diesen seinen eigenen Worten Stellung nehmen zu müssen. Dies
mag für ihn eine böse Klemme gewesen sein, da er jetzt nur die
Wahrheit kennt und gegen Uliwahrhaftigkeiten aller Art eifert. Auch
lautet der Wahlspruch der Anthroposophischen Gesellschaft: „Die
Weisheit liegt nur in der Wahrheit". Hier wäre nun das Zu-
gesländnis einer Meinungsänderung eine schöne Rettung gewesen.
Da ein solches aber unter keinen Umständen scheint gemacht
werden zu können, sagte Steiner seiner Gemeinde, jene Sätze seien
damals (NB.!) „dem blutenden Herzen abgerungen" worden! . . .
Dazu bemerke ich nur, daß ich dies einem bloßen Ohrenzeugen
trotz allem niemals geglaubt haben würde, daß ich es aber im gedruckten
Protokoll gelesen habe.
Auch in der Schölt „Goethes Weltanschauung" (Weimar
1897) hnden sich verschiedene Anhaltspunkte dafür, daß Steiner
früher ganz anderer Meinung war als heule. Zunächst ist zu bemerken
, daß der Titel dieses Buches insofern eine Irreführung ist,
als es sich nur um Anschauungen des Naturforschers
Goolhe handelt. Eine Weltanschauung hat man aber nicht als
irge nd welcher Fach mann, sondern als Mensch. Wahrschein-
lieh hat Steiner sich diese Un- genauigkeit erlaubt, um besse;
zeigen zu können, daß er als Haeckelianer sich auch auf Goethe
berulen kann. Goethe und Haeckel ist jedoch, wofür ich in meiner
Schritt „Goethe und der Materialismus" (0. Mutze, Leipzig) erdrückende
Beweise beigebracht habe, em noch schrillerer Mißklang
als Nietzsche und Haeckel. -— Hier sei doch auch noch erwähnt,
daß E. von Hartmann derjenige Ph.losoph ist, dem Steiner -ehr
nahe steht. (Einleilungen zu Goethes naturwissenschaftlichen
Werker, 2. Bd. S. V.) Wir haben es demnach im heutigen Steiner
mit einem christlichen Theosophen zu tun, der zugleich - da er
seine Anschauungen niemals geändert hat in der Gedankenwelt
Haeckels, Nietzsches und Hartmanns, dreier feindlicher
Brüder, lebt! Was diesen, vielleicht sogar den blindesten Anhänger
etwas beunruhigende Komplex besagen will, mag man
daraus ermessen, daß Hartmann allein zur Charakterisierung
Haeckels den folgenden Aufwand machen mußte: er sei ontolo-
gischer Pluralist, metaphysischer Dualist, Hylozoist, Identitätsphilosoph
, kosmonomischer Monist und Mechanist.
Doch nun zu Goethe. Wenn Steiner S. 58 seines Buches
meint, alle Metaphysik werde von der Goetheschen Weltanschauung
abgelehnt, so ist das die tendenziöse Auffassung eines Haeckel-
schwärmers. Was den Menschen Goethe betrifft, schlägt sie der
Wahrheit ins Gesicht; sie dem Naturforscher zuzuschreiben, ist
angesichts der Vielseitigkeit der Goetheschen Äußerungen zwar
billig, aber nicht überzeugend, da der Altmeister z. B. auch gesagt
hat: „Man kann in den Naturwissenschaften über manche Prob-
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