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104 Psychische Stadien. XLIV. Jahrg. 8-4. Heft. (März-April 1917).
Es setzte in München ein. Und während man in Weimar
auf den Lorbeeren des Dichterfürsten ruht, ist man in München
am Werke, um die Schläfen des heimgegangenen Lichtforschers
neue Kränze zu winden.
„Verpflanze den Baum, Gärtner, er jammert mich;
Glücklicheres Erdreich verdiente der Stamm.
Verpflanze den schönen Baum, Gärtner,
Baum, danke dem Gärtner, der Dich verpflanzt"
Der prophetische Traum.
Eine seltsame Geschichte vom Abend des 24. Dezbr. 1916, vom
Verfasser erlebt und in der Seelenstimmung des Erlebnisses zu
schildern versucht.
Von Ernst Krauß*).
Am heiligen Abend. — Es dunkelt. Die ersten Sterne ziehen
auf. Weißer Nebel webt über den Wiesen. Längs den vielen
Wasserläufen wallt er wie Rauch empor. Ein letzter Schimmer
vom Abendgold der Sonne zittert durch die fahlblauen Wolkenberge
, die rings am Horizonte aufwachsen. Vom nahen Dörflein
her die ersten Lichter. Große heilige Ruhe.
Aber in mir ist Sturm! Heiliger Sturm eines Erlebnisses, das
groß und gev/altig war. Allein die Ruhe, der Friede des Abends,
haben Macht über das aufstürmende Blut, den Hochschlag des
Herzens. Ich weiß nicht, wie ich zu meinem Häuschen im Wald
vor den Dünen zurückkam, das friedlich hinter den Gartenhecken
schlummerte und darin die Liebe wachte und meiner wartete. Es
war, als wäre ich über die Hügelrücken der Sandberge hingeschwebt
. Und ich bin über dieses gewölbte Küstenland mehr geschwebt
, als gelaufen: ich fühlte meine Füße nicht; alles in mir
war Auge und alles um mich lauter Licht.
Ich hatte monatelang das Meer nicht gesehen; nur immer aus
der Ferne gehört. Denn es ist ganz nahe und nur die Hügelwellen
der Dünen trennen es vom Häuschen, das mich herbergt.
Heute Abend lief ich zum erstenmal wieder in die Dünen.
Die Sonne schien warm und mein Verlangen, über das weite Meer
zu sehen, war groß. Meine Krankheit hatte mir diesen erhebenden
Genuß lange, fast den ganzen Vorwinter, versagt.
*) Der gottbegnadete Dichter, mit dessen* stimmungsvollen
Liedern wir uns zuletzt im Dez.-Heft v. J. S. 557 eingehend befaßten
, schreibt uns, um Mißverständnisse auszuschließen, noch zu
obigem sehr schätzenswerten Beitrag u. a.: „Den eigenartigen Traum,
der Ihre Leser interessieren dürfte, erzählte ich vor der Erfüllung
verschiedenen Personen. Es ist also keinerlei Phantasie dabei, nicht
einmal in der Schilderung. Im Gegenteil, ich hatte nicht genug
Worte und Sprachgewalt, um überhaupt das zu schildern, was ich
in jenen Weihnachtstagen erlebte/ — Red.
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