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126 Psychische Stadien. XLIV. Jahrg. 3.-4. Heft. (März-April 1917.)
Wäre dieses Urteil über jene Gesellschaft zutreffend, dann
wären längst alle anständig denkenden Mitglieder aus ihr ausgetreten
und sie wäre wohl selbst allmählich in sich zusammengebrochen
. Dies ist aber keineswegs der Fall. Wie liegen nun
die Dinge in Wirklichkeit?
Wenn man bald 70 Jahre lansr dies Erdenleben mitmacht,
wie der Schreiber dieser Zeilen, dann wird man doch, falls man
sich in dieser langen Zeit bemüht hat, sich mit den Menschen zu
vertragen und das, was an ihnen lobenswert, auch zu schätzen,
Anspruch darauf erheben dürfen, einige Menschenkenntnis zu besitzen.
Und wenn ich es nun wage, diesen Anspruch für mich zu
erheben, dann möchte ich sagen, daß es in der genannten etwa
3500 Mitglieder zählenden Gesellschaft eine große Zahl von
Frauen und Männern gibt, die mir wegen ihrer geistigen Strebsamkeit
, ihrer strengen Wahrheitsliebe und ihrer gereiften Urteilsfähigkeit
die — ich kann nichts anderes sagen als — größte
Wertschätzung* einflösen. Solange ich aber Menschen solcher
Art, wie die hier gemeinten — Menschen, auf die das
obige Sündenregister Seilings anzuwenden, nur nörgelnde Hyper-
kritik vermöchte, in dieser Gesellschaft vorfinde, werde ich
wenigsten ihr treu bleiben, wenn auch Dr. Steiner fortfahren
sollte, seine Anschauungen über Gott und die Welt, über Christentum
und Heidentum, über Theosophie und Okkultismus, über
Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft usw. seinen ferneren
Forschungen und seiner Fähigkeit des Umlernens entsprechend zu
ändern, das heißt, in derselben Weise immermehr zu vertiefen,
wie er dies seit etwa 35 Jaruen zu tun bestrebt ist. Denn trotz
allem Wandel seiner Anschauungen in mancher Hinsicht — wie
solcher ja bei jedem nach Wahrheit ringenden Menschen immer
zu finden sein wird — bleibt doch sein geistiges Streben nach Erkenntnis
stets auf das e i n e große Ziel gerichtet: auf die Erforschung
des Menschenrätsels, also auf wrahre Selbsterkenntnis
und auf echte Anthroposophie. — Und eine nur durch strenge
Selbsterziehung zu erlangende Selbsterkenntnis und Anthroposophie
bildet auch das Ziel der von Seiling in einer Anwandlung von
Misanthropie gänzlich verkannten Anthroposophischen Gesellschaft,
über die eine solche Verdammung auszusprechen, wie dies Seiling
tut, doch wirklich kaum berechtigt ist. Am wenigsten sollte eine
solche Verdammung von einem Manne ausgehent der die Gesellschaft
in früheren Jahren energisch verteidigt hat.
Erklärung:.
Herr Hofrat Prof. Max Seiling hat in seinem Artikel „Z,m
Fall Steiner" einen Ausspruch von mir aus dem im Februar 1913
in Berlin" gehaltenen Vortrage „Zum Studium der Geiteswissen-
schaft« in dem Sinne zitiert, als ob ich die Möglichkeit des Er-
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