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128 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. ,V4. Heft. (März-April 1917.)
sich Steiner besonders aufdringlich wendet. Er wird nicht müde,
mit suggestiver Gewalt immer wieder zu betonen: „Die Erkenntnis
hinauf zu heben zum Erfassen des Geistigen, damit sie die
Kraft des ganzen Lebens werde, das ist — im höheren Sinne gefaßt
— Pflicht. Und Pflicht ist daher für jeden Menschen
Verständnis zu suchen für das Woher und Wohin der Seele."
(Reinkarnation und Karma, Seite 46.) in Köln fand Steiner
1907 dafür folgende Worte: „Wer aber heute Gelegenheit erhält
(in den Erkenntnisweg) einzudringen, darf aus Egoismus
diese Gelegenheit nicht versäumen. Es liegt *o nahe zu sagen:
„Ich habe Angst". Wenn er sich aber bewußt würde, daß er
dadurch der ganzen Welt schadet, daß er kein Recht hat, seine
Kräfte und Fähigkeiten brach liegen zu lassen, er würde anders
denken . . . Wollen wir nicht arbeiten an uns selber, wollen wir
uns nicht bemühen, ein immer brauchbareres Glied zu werden,
so versündigen wir uns an der Menschheit." Man denke sich,
wie solche Worte auf pflichttreue Menschen wirken müssen, die
— den heißen Drang nach Erkenntnis im Herzen, vielleicht aus
eigener Erfahrung von der geistigen Welt als einer Realität über-
zeugr sind- - so vor die Entscheidung gestellt werden, entweder
Geheimschüler zu werden, oder sich an der Menschheit zu ver-
sündigen. Wenn man .ich erinnert, wie scharf sich einst der
„individualistische Anarchist" Steiner gegen den Pflichtbegriff
Kants gewendet hat, so muß man annehmen, daß er sich nun
als eine übermenschliche Größe empfindet, die sich berechtigt
glaubt, solche Pflichten anderen Menschen vorzuschreiben. Nicht-
Anthroposophen können sich oft nicht denken, von wievielen
Seiten aus strebende Menschen durch Steiner „versucht" werden,
sich verpflichtet zu fühlen, seiner Geheimschulung näher zu treten.
Doch ebenso wie die Maus in dem Augenblicke gefangen ist, wo
sie das Lockmittel berührt, so geht den Menschen die Unbefangenheit
verloren, wenn sie den magischen Duft der verführerischen
Darstellungen Dr. Steiners atmen. Denn er versteht es, auf dem
herrlichen Instrument des menschlichen Pflichtgefühles so sirenen-
haft zu spielen, daß ihm die umgarnten Schüler anscheinend freiwillig
in die Arme sinken.
Selbstverständlich sind mißtrauisch* gewordene, stark
kritische Menschen nicht der Gefahr ausgesetzt, Geheimschüler
Dr. Steiners zu werden. An diese Menschen, die er seiner Gesellschaft
möglichst fern hält, wendet er sich grundsätzlich nicht,
sondern an solche, denen außer einem arglosen, vertrauenden und
verehrenden Gemüt auch eine gewisse Bescheidenheit eigen ist,
über außerhalb ihrer Erfahrung liegende Erkenntnisgebiete nicht
zu urteilen. Gerade Menschen, die nach Steiners Darstellung
wegen dieser Eigenschaften am besten für die Geheimschülerschaft
geeignet sind, geraten am leichtesten unter seinen Einfluß. Denn
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