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Hänig: Der Okkultismus als Band zwisch.Keligion U.Wissenschaft. 145
Der exoterische kann sich mit Recht der indischen Wissenschaft
zur Seite stellen. Er kann darauf hinweisen, daß er genau so
durch Messen und Berechnen zu seinen Ergebnissen kommt, wie
die experimentelle Psychologie, wenn nun einmal tiberall gerechnet
und gemessen werden muß. Seine Schlüsse (z. B. über das Leben
nach dem Tode) knüpfen genau so an jene, durch die Sinne gegebene
Erfahrung an, wie das etwa bei den Schlüssen der Naturphilosophie
der Fall ist. Er kann zwar nicht das Dasein Gottes
und die Unsterblichkeit beweisen, aber er kann die Voraussetzungen
nachweisen, die dafür im Menschen gelegen sind.
Die exakten Wissenschaften haben bisher höchstens das Gesetz
von der Erhaltung der Kraft in dieser Hinsicht vorgebracht^
dessen Anwendung aber für uns vorläufig nur auf Gebieten des
Körperlichen erkennbar ist. Darüber hinaus weiß sie nichts, und
es ist bezeichnend?, daß gerade der bedeutendste Psychologe der
Gegenwart, W. Wundt, das individuelle Fortleben des Geistes als
eine Ausgeburt des „unbegrenzten subjektiven Glücksbedtirfnisses"
ablehnt. Woher aber dieses Bedürfnis und im weiteren Sinne die
Religion überhaupt stammt, läßt diese Psychologie dahingestellt.
Sie hat, so groß auch ihre Verdienste auf dem Gebiete der methodischen
Forschung sein mögen, zur Beantwortung der Fragen, die
wir am ehesten von ihr erwarten, nicht das geringste ihrerseits
beigetragen.
Der Okkultismus hat jedoch noch einen weiteren Vorteil vor
dieser Psychologie voraus: er ist nicht nur exoterisch, sondern
auch esoterisch, d. h. es gibt nicht nur für ihn ein sinnliches Erkennen
der in der Sinneswelt wurzelnden Keime des Uebersinn-
lichen, sondern auch ein direktes Erkennen dieses Uebersinnlichen
selbst, das durch Ausbildung der im Menschen schlummernden
ihöheren Fähigkeiten erreichbar ist. Beide Richtungen müssen sich
einander ergänzen, und es ist daher verkehrt, wenn sowohl vom
Standpunkte des experimentellen Okkultismus die Theosophie von
vornherein abgelehnt wird oder wenn diese selbst, wie es u. a.
R. Steiner tut, in jener Richtung nur die letzten Zuckungen des
Materialismus sieht, der das Uebersinnliche zu dem Sinnlichen
herabziehen wolle. Der exoterische Okkultismus ist nur der Vorhof
zu der eigentlichen Geheimwissenschaft, aber er ist die natürliche
Verbindung zwischen dieser und der Außenwelt, und es ist
auch für den, der das Gebiet der Theosophie betritt, gut, sich eine
Zeit lang darin aufgehalten zu haben2). Der Pfad, den der Geheim-
schtiler geht, ist bedeutend gefährlicher, als derjenige, der noch
n der Sinnenwelt selbst an das Okkulte herantritt. Dafür steht
aber auch jenes Erkennen der Religion an sich noch näher als das
bei dem experimentellen Okkultismus der Fall ist. Es ist im eigent-
2) Hunzinger p. 66.
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