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154 Psychische Stadien. XLIV. Jahrg. 3.-4. Heft. (März-April 1917).
„Der Verräter*4, auf Italien bezogen, heißt das 5. Kapitel.
Der Verfasser knüpft an die „große historische Mission" an, die
keinem Neurotiker fehlt. Kann er nicht Napoleon sein, so will
er im kleinen den Judas spielen. Auch unter uns grassiert die
Judasneurose, Treue und Verrat wohnen in der Brust eines jeden
Menschen. Im Abfall Italiens aber sehen wir den Verrat ein
ganzes Volk ergreifen. Aber, sagt der Verfasser, gerade Oberitalien
hat am meisten die Segnungen der österreichischen Herrschaft
gekostet und hetzt nun am meisten zum Krieg. Sollte sich
hinter diesem Haß nicht eine versteckte Liebe und Sehnsucht verbergen
? Geheime Liebe, Bewunderung und Neid deutschen
Wesens? Hier rührt der Verfasser an ein tiefhegendes psychologisches
Problem, und ich bedauere, daß mangelnder Raum verbindet
, die von ihm gebotenen Gedankengänge ausführlicher zu
verfolgen.
„Die Alten im Kriege" behandelt die sechste Abteilung des
Buches.. Die Not der Zeit verlangt nicht nur die Arme der
Jugend, auch die Mithilfe der Alten. Sie weist auf Hindenburg
hin. Nichts anderes aber ist es, als die Begeisterung, was heute
die Alten wieder jung werden läßt.
„Die Gefangenenliebe" erklärt der Verfasser im siebenten
Kapitel aus dem instinktiven Gefühl der Frau für das Fremde
und für die Veränderung. Hier äußert sich ein gewisser Infantilismus
. Um das Problem zu erschöpfen, muß man auf den
„Kampf der Geschlechter" zurückgehen. Der Kampf der Geschlechter
ruht während des Kriegs nur scheinbar, während ein
gemeinsamer Feind beide Geschlechter zu gemeinsamer Abwehr
vereinigen sollte. In Wirklichkeit benützen die Frauen den Krieg,
um die Positionen der Männer zu erobern und vielleicht dauernd
zu besetzen. Psychologisch lautet die Formel der Gefangenenliebe:
„Ich liebe dich, weil dich unsere Männer haßen." Indeß ist der
Verfasser weit entfernt, diese Sinnesart dem ganzen weiblichen
Geschlecht unterzuschieben. Er ehrt und schätzt in ihm auch den
edlen Vertreter des Mitleids und der allgemeinen Menschenliebe.
Ahnungsvoll greift die Frau vielleicht einer fernen Völkerverbrüderung
vor. Sie ahnt die Liebe der Zukunft und überwindet den
Haß der Gegenwart.
In dem achten Kapitel „Krieg und Kirnst" geht Verfasser
von den Leitsätzen aus, daß der Künstler ein Neurotiker sei, der seine
psychischen Konflikte im Schaffen zu lösen sucht. Die Kunst aber ist
die Umwandlung der Bewegung in Ruhe. Sie schafft Kultur.
Der Krieg ist im Grunde genommen etwas kulturfeindliches, was
überwunden werden muß. Aber er ist eine Notwendigkeit. Nur
die Rüstung der Kultur auf den Krieg rettet gegenwärtig die
abendländische Kultur vor dem Einbruch barbarischer östlicher
Horden. Immerhin aber sind Krieg und Kunst Gegensätze,
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