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186 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1917.)
Beides kann der Okkultismus zwar mit seinen Mitteln nicht beweisen
, aber er kann das Tatsachenmaterial herbeibringen, um
nachzuweisen, daß wir auch solche Vorgänge heute nicht mehr als
Aufhebung von Naturgesetzen ansehen und daher für unmöglich
erklären können. Wir wissen, daß eine Verbindung zwischen
Sinnes- und Astralwelt auf zweierlei Weise hergestellt werden
kann* indem der Mensch sie durch seine tibersinnlichen Organe
wahrnimmt, oder, wie die Versuche an lebenden Menschen gezeigt
haben, indem jene feinstofflichen Körper sich bis zu <dem Grade
materialisieren, daß sie für unsere Sinne wahrnehmbar sind. Was
uns in den Evangelien über die Erscheinungen Christi nach seinem
Tode berichtet wird, beruht auf derselben Anschauung. Wenn von
dem Auferstandenen gesagt wird, daß sein Körper so feinstofflich
war, daß ihm Türen kein Hindernis mehr waren und s;ch doch
soweit verdichtete, daß seinLieblingsjtinger die Härde in die Wundenmale
legte, so haben wir dabei Vorgänge, die dem entsprechen,
was uns in den Berichten von spiritistischen Sitzungen vorliegt.
Und eoenso ist es auch mit der Schwierigkeit, die durch die JEr-
klärung des leeren Grabes für viele Theologen gegeben ist. Der
Okkultismus kennt eineParallelerscheinung, durch die wir am ehesten
jenen Vorgang begreifen könnten: die Demateraüsation körperlicher
Gegenstände, die uns des öfteren berichtet wird. Ist eine solche
Dematerialisation möglich, so können wir auch jene Auflösung des
Leibes, wie sie das leere Grab voraussetzt, nicht mehr für eine
Unmöglichkeit halten. Der Okkultismus räumt auch hier die Schwierigkeiten
aus dem Wege, die dem Glauben durch das Wissen entgegengesetzt
werden.')
Wir sind damit schon zu dem gekommen, was ich als letzten
Punkt dieser Ausführungen behandeln wollte: das religiöse Erleben.
Es ist unendlich viel in der Neuzeit darüber geschrieben worden,
weil das Bedürfnis heute wieder größer als je ist, über diese
Dinge ins Reine zu kommen. Unter Erleben versteht mar das gefühlsmäßige
Innewerden einer höheren Welt, als sie durch unsere
Sinne gegeben ist. Das kann also jedes Gefühl in uns sein, das
sich auf ein Höheres bezieht. Ob der Wilde einen Stein oder
Fetisch anbetet, oder der Gelehrte beim Anblick der Sternenwelt
von dem Schauer der Unendlichkeit ergriffen wird, ist im Grunde
ganz gleich. Es ist etwas Höheres in ihnen, das in diesem Augenblick
in ihr Bewußtsein tritt. Im Gebet fühlt sich der Mensch
einer solchen höheren Welt nahe und in der Mystik fühlt er sich
eins mit ihr. Es ist ein unendlich seliges Gefühl, das dann im
Menschen auftritt und das so vollständig verschieden von allen
irdischen Gemütsbewegungen ist, daß man ihm einen ganz anderen
Ursprung zuweisen muß. Wir müssen also Organe in uns haben,
i}) Näheres und Quellen über diese Frage s. Seiling in d. a lkiche
p. 79 ff.
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