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192 Psychische Btudien. XLJLV. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1917.)
des Menschen, die dieser erlangt, wenn er von dem Gesichtspunkte
aus sich betrachtet, welchen er gewinnt durch das Erleben in seiner
übersinnlichen Wesenheit. Seine sinnliche Wesenheit bringt den
Menschen bis zum Denken. Doch im Denken ergreift er sich als
übersinnliches Wesen. Erhebt er das bloße Denken zum inneren
Erleben, wodurch es nicht mehr bloß Denken ist, sondern
übersinnliches Anschauen, so gewinnt er eine Wissenart, durch
die er nicht mehr nur auf Sinnliches, sondern auf Übersinnliches
hinschaut/* . . . „Diese gründliche Erfassung des Menschenwesens
erhebt nunmehr die „Anthropologie** in ihrem Endresultate
zur „Anthroposophie**.** Letzteres sind Fichtes eigene Worte. —
Aber so etwas bleibt für das kritiklose Vertrauen Seiling's natürlich
„unkontrollierbar**, weil er nichts weiß oder richts wissen
will von der durch Steiner in „Goethes Weltanschauung** S. 53
schon 1897 festgestellten Tatsache: „Zwischen
den mathematischen Raum- und Zahlenvorstellungen und den
intimsten, geistigsten Erlebnissen ist aber kein Art-, sondern nur
ein Gradunterschied**. Gleichwohl führt auch dieses Buch
Seiling S. 78 selber an!
Soviel über den angeblich „unkontrollierbaren** U r -
s p r u n g der Geisteswissenschaft oder Anthroposophie, für den
Seiling leider jedes wahre Verständnis abhanden gekommen zu
sein scheint, über den aber Steiner zu allen Zeiten die-
selbe Anschauung hatte.
Bezüglich^ der von Seiling nachgewiesenen, scheinbaren
„Widersprüche** Steiner's kann man zusammenfassend sagen:
Seiling meint (S. 37) unrichtigerweise, daß der „frühere Steiner**
der „materialistischen Gesinnung* gehuldigt, also Geist, Freiheit
usw. geleugnet habe, während der „jetzige Steiner** umgekehrt
das früher Geleugnete vertrete; dazwischen läge das von Seiling
(S. 31) vermutete „Saulus-Paulus**-Ereignis! — Dabei sucht
Seiling (S. 36) sogar den Siryi eines Zitates (natürlich wohl nur
aus Einsichtslosigkeit!) falsch zu interpretieren; denn „übernatürlich
** hat ganz selbstverständlich auch dort nicht die Bedeutung
von „übersinnlich**. Wenn man doch nur einmal
genau lesen und denken möchte!
So behauptet Steiner völlig exakt noch heute (nicht bloß
früher) mit Xenophanes, daß die Menschen %ich die Göttervor-
stellungen, Gött^rgestalten nach ihrem Bilde geschaffen haben,
schildert aber zugleich im selben Buche („Das Christentum
als mystische Tatsache**) die geistig-lebendige Wirklichkeit
der als „Götter** wirkenden Kraftwesenheiten und führt letzteres
sogar im einzelnen verschiedentlich auf das deutlichste aus.
Ebenso gibt Steiner gerade ersteres als das Richtige in der von
Seiling (S. 34) natürlich verworfenen, weil nicht richtig verstandenen
, d. h. für ihn okkulten Feuerbach* sehen An-
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