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220 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. 5. Heft (Mai 1917.)
Geistesmeditation. Die Fülle der Erlebnisse und Gedanken, die
auf sie einströmte, machte sie weitblickend, weitherzig und bildete
aus ihnen Menschen, die wie eherne Säulen den Tempel der
menschlichen Geistesentwicklung tragen. Dagegen macht die ewige
Gedankeneinseitigkeit Steiner'scher Schulung die Schüler engherzig
und eingebildet, daß sie alle Menschen, die auf Grund
eigener Erfahrungen eine andere Ansichr vertreten müssen, als
abnorm und pathologisch betrachten. Solche Anthroposophen
bissen gar nicht, wie sehr sie in ihrem Denken und Fühlen ein
Opfer ihrer Schulung sind. Diese Art von Selbst Entwicklung verwerfend
, sagt deshalb Goethe mit Recht:
„Inwendig lernt kein Mensch sein Innerstes Erkennen; denn
er mißt nach eignem Maß Sich bald zu klein und leider oft zu
groß. Der Mensch erkennt sich nur im Menschen, und > Das
Leben lehret jedem, was er sei.**
Während die Lebensschulung den Menschen langsam emporhebt
und für die Verschiedenheit des Seins Verständnis erzeugt,
zieht die Steiner'sche Schulung den Schülern nur einen übersinnlichen
Dogmenvorhang vor die Augen, bis sie für die gesunden
Lebenswerte erblinden. Man weiß aus dem Leben Goethe's,
Wagner's, Raffael's u. a., daß sie sogar Dinge getrieben haben,
die gegen eine geistige Entwicklung sein könnten. Wo ist aber
ein Anthroposoph, der dieser Großartigkeit ihrer Leistungen und
ihren großen Charakteren irgendwie nahe gekommen wäre? Auch
zeigt uns die Geschichte und das Leben der großen christlichen
Männer, von denen ein Paulus sogar die Christen verfolgte und
ein Augustinus sich dem sinnlichen Leben hingab, wie es nicht auf
das menschliche Streben ankommt, für geistige Erkenntnisse reif
zu werden, sondern allein auf die Gnade der allmächtigen geistigen
Führung.*) Deshalb spricht Paulus Gedanken aus, die der Denk-
weise Steiner's im wesentlichen ganz entgegengesetzt sind
(Philipper 2, 13; 2. Korinther 3, 5; Ev. Johannis 3, 27 u. 15, 5).
Die geistigen Welten lassen sich nicht durch eine angebliche Treibhauskultur
eines fragwürdigen okkulten Lehrers ertrotzen, sie ergeben
sich dem, der ihrer Gnade teilhaftig wird und der durch das
Schicksal zu etwas Großem im Leben erzogen wurde.
Piese gesunde Lebensschulung ist aber den Anthroposophen
zu schwer, weil sie ein mühevoller Weg ist, zu dem vor allem angeborene
Begabung gehört. So erscheint es vielen als etwas Verlockendes
, ihre meist eingebildeten Fähigkeiten mit den unnatürlichen
Mitteln der Steiner-Schulung zur Entwicklung zu bringen.
Wie erhebend und das Selbstgefühl stärkend ist doch für die
Schüler das Bewußtsein, für eine „höhere Schulung** reif zu sein,
die sie angeblich über lang oder kurz zum Schauen der geistigen
Welten, zum Erleben der übersinnlichen Erkenntnisse bringen
*) Das ist kirchliches Dogma! — Red.
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