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Freimar: Ein lebendes Gespenst
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wird! Man bedenke, was es solchen Schülern für Überwindung
kosten würde, die jahrelang mit stärkster Suggestion gepflegte
Denkungsart aus dem Herzen zu reißen. Diese Reife der Entsagung
darf man von den wenigsten Anthroposophen erwarten;
deshalb versuchen sie ihren Glauben an Steiner selbst durch Anklammerung
an Strohhalme zu retten. Auch sorgen die Logenvorstände
gewissenhaft dafür, daß alle Zeugnisse gegen den
Lehrer, alle begründeten entgegengesetzten Anschauungen den
Schülern möglichst unbekannt bleiben, weil man innerlich fürchtet,
der starke Wein der Wahrheit könnte ihre seelische „Ver-
steinerung" erweichen. — Aber alle Einbildungen müssen einmal
an der Wirklichkeit des Lebens zerschellen. Auch die treuesten
Schüler, die ihren moralischen Niedergang in ihrer Befangenheit
nicht bemerken, werden einmal den Irrweg einsehen, wenn sie
ihre Zeit für Steiner-Übungen jahrzehntelang ergebnislos vergeudet
haben.
HL Abteilung.
Tagesneiiigkeiten, Notizen u. dergl.
Ein lebendes Gespenst.
Von Fritz Freimar.
Für den Geschichtskundigen steht es außer Zweifel, daß der
jetzt die ganze Welt verheerende Völkerkrieg die kaum zu vermeidende
Folge der Demütigung Frankreichs im Krieg von 1870/71
und daß letzterer hauptsächlich durch jene Frau verschuldet war,
die unter klerikalem Einfluß stehend — galt es doch damals die
Vernichtung der protestantischen Militärmacht Preußen — ihren
Gemahl Napoleon III. zu seinem Unheil in sein damaliges letztes
politisches Abenteuer hineinhetzte. Kaiserin Eugenie, cfie man
noch jetzt als bemitleidenswerte Menschenruine im Park ihrer
schönen Villa an der Riviera fast wie einen von dieser Welt schon
abgeschiedenen Geist umherwandeln sieht, hat ihren menschlich
begreiflichen Ehrgeiz durch den Verlust ihres Thrones und ihres
Sohnes schwer gebüßt und inzwischen vielleicht als treue Tochter
ihrer Kirche religiösen Trost gefunden, dei freilich den innen
fr es? enden Wurm des schlechten Gewissens nach aller menschlichen
Erfahrung nie ganz töten kann. Wie de \on seltener
Glücksgunsl so hoch empor gehobene und dann um so jäher
herabgestürzte stolze Spanierin ehedem als junges i ;,ädc^en durch
die Handlesekunst einer Zigeunerin auf die ihr zrm Verhängnis
werdende Kaiserkrone hingewiesen wurde, schildert hübsch unter
der Spitzmarke: „Wie Napoleon um Eugenie warb** ein
Feuilleton der uns von konservativer Seite eingesandten, vorzüglich
redigierten „Tägl. Unterhaltungs-Beilage der Deutschen
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