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Clericus: Die TVen leben. 2:?3
Ein Jahr nach seinem Tode, im Frühjahr 1913, wanderte
an einem Feiertag nachmittag die ganze Familie, die Mutter,
2 Söhne von 16 und 6 Jahren und 2 Töchter von 15 und
8 Jahren den Fluß entlang nach U., um am Grabe des Vaters
zu beten. Wie sie so dahin gehen, sehen sie plötzlich auf dem
Flußdammweg (die Familie selbst ging auf einem parallel mit dem
Damm sich hinziehenden Pfad) einen Mann entgegenkommen, in
dem alle sofort den Vater erkannten. Zuerst deutete
stumm und staunend der 6 jährige Knabe nach dieser Richtung,
der Mutter gab es, wie sie mir sagte, sofort „einen Riß": denn
das Gesicht, die ganze sehr eigenartige Haltung, gewisse, dem
Verstorbenen charakteristische Bewegungen, die Kleidung waren
die des Vaters. Der älteste Sohn aber, ebenfalls starr vor
Staunen, war sogleich, ohne etwas zu sagen, nach dem Damm
zugeeilt, während die Mutter ihm noch nachrief: „Gehe ihm nach
und fiage ihn!** Daß die Mutter nicht selbst dem Gatten nacheilte
, erklärt sich aus dem sehr gespannten Verhältnis, in dem die Eheleute
gelebt hatten. Lange, lange, gingen die Zurückgebliebenen auf
und ab, den ältesten Sohn zurückerwartend, aber erst nach langem
Warten kam dieser zurück, sehr aufgeregt und sichtlich angegriffen
. Auf die Frager der Seinen antwortete er jedoch ausweichend
. „Ein unbestimmtes Etwas, sagte mir der junge Mann,
verschloß mir damals den Mund.*' Er glaubte wohl, daß die
Mutter, die immer dem Gedanken an den Verunglückten nachhing
, durch seine Mitteilungen erst recht aufgeregt werde.
Zu beachten ist, daß der junge Mann von starker Willenskraft
und etwas verschlossen ist. Er konnte also schweigen. Aber
!916 zum Militär einberufen und schwer erkrankt, eröffnete er
sich seiner Mutter und seinem Religionslehrer. Als ich ihn gestern
sprach, machte er auf mich den Eindruck eines gut gezogenen
und zuverlässigen jungen Mannes. Auch von der Mutter habe
ich die besten Eindrücke. Eine ernste Frau, die des Lebens Leid
in hohem Maße erfahren. Nun zu den Mitteilungen des jungen
Mannes. Vorher will ich noch bemerken, daß die Erscheinung
durchaus nicht den Eindruck „eines Gespenstes'* machte, sondern
«o durchaus lebenswahr erschien, daß alle dachten: der Vater ist
ja garnicht tot, er war nur verschollen! Der Sohn ging also der
Gestalt in etwa 10 Meter Entfernung nach, hatte aber nicht den
Mut, sie anzurufen.
Plötzlich blieb aber die Gestalt stehen, wandte sich scharf
um, sah den Sohn traurig und doch wohlwollend an und sagte:
„A.. ., warum folgst Du mir ?" Der Sohn konnte kein Wort
hervorbringen. Die Stimme klang nicht wie die des Vaters, sondern
eigentümlich hohl. Der Vater forderte den Sohn auf, ihm zu
folgen und nahm ihn an der Hand, die sich wie lebend anfühlte.
Beide gingen nun hart am Fluß, da strich der Vater dem Sohn
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