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Wohlbold: Zum angeblichen »Fall Steiner*.
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iicnes Ding hat zwei Seiten. Das eine ist die Außenseite. Sie
nehmen wir mit den Sinnen wahr. Dann gibt es auch eine
Innenseite. Diese stellt sich dem Geist dar, wenn er zu betrachten
versteht. An seine eigene Unfähigkeit in einer Sache wird nie-
mand glauben. Wer bei sich die Fähigkeit vermißt, diese Innen-
seile wahrzunehmen, der leugnet sie am liebsten den Menschen
ganz ab oder er verschreit diejenigen als Phantasten, die vorgeben,
sie zu besitzen." Es entspricht diese Auffassung ganz dem,
was Dr. Steiner auch vielfach an anderer Stelle, z. B. in den
„Rätseln der Philosophie" sagt: „daß alles, was die Sinne wahrnehmen
, sich durch seine eigene Wesenheit nicht als eine fertige,
in sich beschlossene Wirklichkeit darstellt, sondern als ein Unvollendetes
, gewissermaßen als eine halbe Wirklichkei t."
In zahlreichen Aufsätzen des „Magazin" vertritt Steiner diesen
Standpunkt. ,Es liegt etwas in der Natur, was uns tausend Tatsachen
nicht verraten, wenn uns die Sehkraft des Geistes abgeht
es zu schauen", sagt er einmal („Magazin" 1899 Nr. 42) und
wie er z. B. dem Schriftsteller Peter Altenberg vorwirft, daß dieser
für das „Ewige in den Dingen, das Rückgrat des Lebens" keinen
Sinn habe, so schätzt er andererseits an dem Dichter Jakobowsky,
daß in seinen Gedichten sich zeigt der „große Ausblick auf das
Wesenhafte der Welt, das hinter dem ewigen Fluß der Erscheinungen
steht." Wenn Seiling den Satz Steiners anführt: „Es
gibt nur eine Rettung aus dem Glauben an eine übernatürliche
Weltordnung, und das ist die monistische Erkenntnis, daß alle Erklärungsgründe
für die Welterscheinungen auch innerhalb des
Gebietes dieser Erscheinungen Hegen", so ist nach dem Gesagten
wohl jedem Leser versländlich, was Dr. Steiner damit meinl.
Man sieht aber auch, daß Hoftat Seiling ganz willkürlich verfährt
und den Sinn des angeführten Satzes vollständig entstellt,
wenn er hinzufügt: das Wort „übernatürlich" hat hier selbstverständlich
die Bedeutung von „übersinnlich". Damit ist Dr. Steiner
an Stelle dessen, was er sagt, etwas ganz anderes untergeschoben.
Das Übersinnliche ist ja eben gerade für Steiner nicht
auch übernatürlich, sondern es stellt nur die andere Seite
de/ Natur dar, zu der wir durch ein richtiges Denken vordringen
können, wie wir die Außenseite der Natur mit unseren
Sinnen wahrnehmen. Wir brauchen keinen Glauben an etwas
Übei natürliches, wenn wir den Geist finden wollen, weil
wir uns ein Wissen vom Übersinnlichen in der Natur
erringen können. In diesem Sinn nennt Steiner Kant den „Königsberger
Verlührer**, weil dieser sagt: „Ich wollte das Wissen begrenzen
, um für den Glauben Platz zu gewinnen**. Dagegen entspricht
diese Naturauffassung Dr. Steiners völlig derjenigen
Goethes, von dem Dr. Steiner sagt: „Er fühlte das Vermögen in
sich, aus der Anschauung der Natur heraus zu
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