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Wohlbold: Zum angeblichen .Fall Steiner".
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der richtige ist. Was er gegen die angeblichen „innerlichen Erlebnisse
" der Theosophen, die diesen Weg gehen wollen, einzu-
wenden hat, das sagt er ausführlich in seinem neuesten Buch
„Vom Menschenrätsel**, das im Sommer 1916 erschienen ist. Dort
kann Hofrat Seiling auf den Seiten 119—122 und 253—255 den
Schlüssel finden^ der ihm die Rätsel des Magazin-Aufsatzes über
die „Theosophen*4 löst, die er als „Hauptanlaß zum Kopfschütteln"
betrachtet.
Das, was Dr. Steiner sich nach dem Gesagten als Ziel setzt,
das Suchen des Geistes innerhalb der Natur, ist auch das Ziel
Goethes. Dr. Steiner hat ganz recht, wenn er sagt, daß Goethe
die Metaphysik ablehnt. Metaphysik treibt nach Steiner (Philos.
der Freiheit), wer versucht „zu dem Wissen über die innerhalb
der Erfahrung erkennbaren Zusammenhänge noch ein zweites zu
gewinnen, das über die Erfahrung hinausgeht/* Hofrat Seiling
bricht das Zitat, das er anführt, mitten im Satz ab. Goethe sagt:
„Man kann in der Naturwissenschaft über manche Probleme nicht
gehörig sprechen, wenn man die Metaphysik nicht zu Hilfe ruft,
aber nicht jene Schul- und W o r t w e i s h e i t ;
es ist dasjenige, was vor, mit und nach
der Physik war, ist und sein wird.** Das
von mir Hervorgehobene läßt Hofrat Seiling weg, obwohl dadurch
der Sinn entstellt wird, denn gerade hieraus ergibt sich, daß die
von Goethe anerkannte Metaphysik nicht die „Schul- und Wort-
Weisheit** ist, die man sonst darunter versteht, sondern etwas
Höheres, das aus der Physik hei ausgehol t
werden muß.
Auf der naturwissenschaftlichen Weltanschauung Goethes
baut Dr. Steiner weiter und dadurch gestaltet er die heutige
Wissenschaft von der Materie so aus, daß sie zu einer Wissenschaft
vom Geist wird. Diese will er den Menschen bringen, er will
sie zur Erkenntnis der geistigen Welten und Wesenheiten führen,
die als die andere Seite der Natur ebenso real sind, wie die
unseren Sinnen zugängliche Seite. In seinen letzten Tiefen führt
dieser E)kenntnisweg dann zu dem esoterischen Christentum, das
den Gipfelpunkt der Geisteswissenschaft bedeutet. Auch hier soll
an Stelle des blinden Glaubens das Wissen treten. —
Immer tiefere Fähigkeiten der Menschennatur will Dr. Steiner
herausbilden. Darin stimmt er mit Nietzsche überein. Nicht
einen „Immoralisten** verehrt er in diesem, wie Seiling meint,
Dr. Steiner sagt vielmehr „alles was göttlich ist im Menschen,
wollte Nietzsche erwecken** („Magazin** 1898, Nr. 33).
Es ist unbegreiflich, wie man nach jahrelangem Studium der
Geisteswissenschaft behaupten kann, sie verlange „völlig kritiklose
und automatische Anhänger**. Solche mag es vielleicht
geben, aber sie werden früher oder später von Dr. Steiner ab-
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