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418 Psychische Studien. XLIV. Jahrg 10. Heft. (Oktober 1917.)
der menschlichen Unsterblichkeit angewendet, so stellt sich diese
nicht mehr als ein Sein nach dem Tode, sondern als ein rein zeitloses
Sein dar, das man bildlich lieber als eine einzige beständige
•Gegenwart bezeichnen könnte. Die Verbindung zwischen dem
Ewigkeitsleben und dem Zeitleben würde dann genauer durch den
Begriff der Erscheinungsweise (der Phänomenalität) auszudrücken
sein. Eigentlich gibt es nur ein und daselbe Leben; in seiner
Wahrheit erfaßt ist es ewig, uns erscheint es unvollkommen als ein
Zeitleben.
Diese Theorie von einem Ewigkeitsleben ist auch keine bloße
Hypothese; sie hat in gewissem Grade eine Sttiize auch in unserer
unmittelbaren Erfahrung. Trotz der Schranken des Zeitlebens
haben wir hier eine Ahnung von einem höheren Leben, das dem
Erdenleben seine wahre Bedeutung verleiht. In der dem wissenschaftlichen
Denken entsprechenden Auffassung von ewigen
über allen Wechsel des Zeitlebens erhabenen Wahrheiten spüren
wir dieses Ewigkeitsleben; in den unbedingten Forderungen des
Pflichtgebots haben wir eine mahnende Ahnung davon; in dem
gläubigen Sehnen nach Vereinigung mit Gott fühlen wir unser
ganzes Wesen innerlich hingezogen zu einer Wirklichkeit ganz
anderer Art als dieses Erdenleben ist, und in dem Maße, wie wir
uns dieses ewigen Lebens teilhaftig fühlen, kommt unser Gemüt
zur Ruhe. Das Zeitleben ist Kampf ohne Waffenruhe, Wie es unbegrenzt
an uns vorüberfließt, erfüllt es jeden tieler fühlenden
Menschen mit Grauen vor „der schlechten Unendlichkeit".*) Wir
brauchen einen festen Punkt, woran unser inneres Wesen sich
halten kann; wir erreichen ihn aber nur in dem Maße, wie uns die
Ewigkeit durch den Schleier der Zeit hindurchschimmert.
Diese geläuterte Auffassung der Unsterblichkeit gibt auch dem
Zeitleben eine tiefere ♦ Bedeutung. Da nach dieser Ansicht die
Ewigkeit nicht dem Zeitleben nachfolgt, sondern ebenso gut als
gleichzeitig zu betrachten ist, erhält jede unserer Handlungen in
dieser Zeitlichkeit eine unmittelbare Ewigkeitsbedeutung. Das
Erdenleben ist nicht mehr bloß Vorbereitung auf ein anderes
Leben, das dereinst kommen soll; es ist in seiner Innerlichkeit unser
eigentliches wahres Leben, das nur in unserer unzulänglichen Auf-
*) Als „die schlechte*1 <so viel wie falsche^ Unendlichkeit bezeichnet
Hege' (Logik I, 2. Abschn. Kap. 2) den unendlichen Prozeß, der nicht zur
Erreichung, nieht einmal zur Näherung an das Unendliche führt: „das
perennierende Herüber- und Hinübergehen von dem einen Gliede des
bleibenden Widerspruchs zum andern, von der Grenze zu ihrem Nichtsein,
von diesem aufs neue zurück zur Grenze." Er verweist auf Albrecht von I laller,
der in seiner Ode an die Ewigkeit das Vergebliche und Hohle der Häutung
von ungeheuren Zahlen, von Zeit &uf Zeit, von Welt auf Welt anerkennt,
„und wenn ich von der grausen Höh mit Schwindeln wieder nach dir seh,
ist alle Macht der Zahl, vermehrt zu tausendmalen, noch nicht ein Teil
von dir. Ich zieh sie ab — und du liegst ganz vor mir." W.
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