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424 Psychische Studien XLJV. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1917.»
mählich herabzuschrauben. So kommt bekanntlich heute mancher
ins feldgraue Gewand, der in Friedenszeiten nicht eingezogen
worden wäre. Je mehr aber schwächliche, nervenzarte Männer
an die Front geschickt werden müssen, und je tiefer der Krieg
mit seiner langen Dauer in das soziale Leben, in die Familien,
die Arbeits- und ErwerKsverhältnisse älterer verheirateter Männer
eingreift, desto größer wird die Zahl derer werden, denen die Teilnahme
am Krieg innerlich schwer gemacht ist, denen nur eine
heiße Vaterlandsliebe und ein starkes Pflichtgefühl die moralische
Kraft verleihen kann, die Unruhe ihrer Nenen, das elementare
Gebot der Selbsterhaltung, die Abneigung gegen das Soldatenhandwerk
innerlich zu meistern und die Spannkraft der Seele zu
behalten.
Läßt diese Spannkraft nach, oder wrar sie von Natur aus gering
, fehlt es an der vollen Hingabe an die kriegerische Aufgabe,
so sind die Anforderungen des Frontdienstes viel leichter imstande,
das seelische Gleichgewicht zu stören, die Selbstbeherrschung
zu erschüttern, nervöse Symptome mannigfaltiger Art zu erzeugen
. Ja bei besonders ungünstiger Anlage oder bei besonderen
seelischen Erschwerungen genügt schon die Angst vor dem
Frontdienst, manchmal sogar schon der Widerwille gegen den
militärischen Dienst überhaupt, um hysterische Zustände zu erzeugen
und hartnäckig festzuhalten. Alle die Bilder erschrecken-
dei Art, das starke Schüttelziltern des Körpers, die Unfähigkeit
noi malen Stehens und Gehens, Krampf zustände und Lähmungen,
die wir bisweilen als das Ergebnis schwerer Frontkämpfe entstehen
sehen, treten uns auch licht selten bei solchen Mannschaften
vor Augen, die nie im Felde waren, sondern schon bei der
Ausbildung oder am Tage vor dem Abmarsch zur Front, am
ersten Tage im Schützengraben, oder nach Ansage eines Sturmangriffs
neurotisch reagieren. Es ist den Neivenärzten schon
lange aufgefallen, wie viele der Kriegsneurotiker nur kurz im
Felde waren, wie selten sie verwundet sind, wie manche bereits
in der Heimat erkrankten. Die Bedeutung dieser seelischen Einflüsse
(Angst, Abneigung gegen die Front) geht unter anderem
auch aus der merkwürdigen Tatsache hervor, daß untei den
Kriegsgefangenen, für die mit der Gefangennahme der Krieg zu
Ende ist, solche Nervenstörungen (Zittern, Stummheit und Taubheit
, Lähmungen und Krämpfe psychischer Herkunft) nicht vorkommen
, obwohl diese Neurosen in den Heimatländern dieser
Kriegsgefangenen mindestens ebenso häufig sind als bei uns.
Es darf nicht verschwiegen werden, daß in einem Heere,
dem jeder dritte männliche Einwohner unseres Landes angehört,
natürlich auch manche unerfreuliche Elemente sind, denen die
Dienstpflicht zuwider, der Frontdienst mit seinen Gefahren ein
Greuel ist, und deren Bestreben dahin geht, durch Vortäuschung
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