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Meiling: Richard Wagner als Mystiker. 427
weisen, kleine Übe! mit freudiger Entschlossenheit auf uns zu nehmen
, und im Verkehr mit unseren Kriegern Mut und Zuversicht
zu zeigen.
Richard Wagner als Mystiker.
Von Hofrat Prof. Max Seil in g, München.
Wer weiß, daß viele große Geister mystische Neigungen
gehabt haben, wird von dieser Uberschrift nicht gerade
überrascht sein, namentlich wenn er zutreffenderweise voraussetzt
, daß es sich dabei nicht um Mystik im engeren Sinne
des Wortes handelt: um das, was von unsern mittelalterlichen
Mystikern angestrebt wurde. Wagner ist vielmehr
Mystiker nur insofern, als er in seinen Dichtungen und
Prosaschriften, wie auch als Musiker, allerhand Geheimnisse
des Daseins berührt und solchermaßen viele Beziehungen
zu dem hat, was man in einem weiteren Sinne
des Wortes Okkultismus nennt.
Vor allen Dingen muß hervorgehoben werden, daß
Wagner sich durchaus auf okkultem Boden befindet, wenn
er sich über die \rt seines künstlerischen Schaffens
ausspricht. Ganz besonders ist dies der Fall, wenn er sagt:
„Der Dichter ist der Wissende des Unbewußten" und wenn
er an Mathilde Wesendonk schreibt (1. Jan. 1860): „Es muß
einen unbeschreibbaren inneren Sinn geben, der ganz hell
und tätig nur ist, wenn die nach außen gewendeten Sinne
etwa nur träumen. Wenn ich eigentlich nicht mehr deutlich
sehe, noch auch höre, ist dieser Sinn am tätigsten und er
zeigt sich in seiner Funktion als produktive Ruhe: ich
kann's nicht anders nennen . . . Dieser Blick über die Welt
hinaus: er ist ja auch der einzige, der die Welt versteht/4
Hält Kant, in dessen Netz fast das ganze heutige Denken
gefangen ist, jede über die Sinnenwelt hinausgehende Erkenntnis
schlechterdings für unmöglich, so wird uns die
von der Geheimwissenschaft behauptete Erkenntnis der
übersinnlichen Welt hier vom Künstler bestätigt. Allerdings
unterscheidet sich der den Geistesforscher mit der
geistigen Welt verbindende Blick von dem des Künstlers
dadurch, daß er durch systematische Schulung hellseherischer
Fähigkeiten gewonnen wird, während der Künstler in der
Kegel nur Inspirationen hat. Vermöge dieser kann er aus
der geistigen Welt schöpfen, ohne selbst erkennend in sie
hineinzuschauen. Daß Wagner, wie namentlich auch Goethe*)
dies reichlich getan, dafür zeugt nicht nur jene Briefstelle.
*) Siehe S. 88— 9r meiner Protestschrift „Goethe und der Materialismus
*' (O. Mutze, Leipzig), wo viele Selbstzeugnisse des Dichters angeführt sind.
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