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423 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1917.)
So schreibt er z. B.: „Schlaflos in einem Gasthofe von La
Spezzia ausgestreckt, kam mir die Eingebung meiner Musik
zum Rheingold.". Ein andermal spricht er von den „Geisterstimmen
," die ihm im Traume ihre Melodien zuraunten.
Sodann läßt er „das Individuum von Gott besessen" sein,
wenn es „etwas außergewöhnliches, nur selten gelingendes
und allen zugute kommendes zu leisten in Stand gesetzt
worden ist." über „Tristan und Isolde" schreibt er: „Der
Tristan ist und bleibt mir ein Wunder! Wie ich so etwas
habe machen können, wird mir immer unbegreiflicher." Unbegreiflich
ist vor allem, daß Wagner trotz der unglaublichsten
Hindernisse schaffen konnte. Er selbst erklärt
sich dies also: .,Uber mir mußte ein wunderbarer Segen
walten, daß ich in diesen Jahren des Kummers, der Entbehrung
, der mannigfaltigsten Leiden aller Art, das schaffen
konnte, was der Unbekannte vielleicht nur als aus dem
reichsten Schöße eines harmonischen Daseins hervorgeblüht
sich vorstellen können wird."
Ein zweiter Gesichtspunkt ist Wagners Auffassung
vom Wesen der Musik. Noch zutreffender als Schopenhauer
sagt er an der wichtigsten der hier in Betracht
kommenden Stellen: „Die Symphonie muß uns geradewegs
als eine Offenbarung aus einer anderen Welt erscheinen;
und in Wahrheit deckt sie uns einen von dem gewöhnlichen
logischen Zusammenhang durchaus verschiedenen
Zusammenhang der Phänomene der Welt auf, von welchem
das eine zuvörderst unleugbar ist, nämlich daß er mit der
überwältigendsten Uberzeugung sich uns aufdrängt und
unser Gefühl mit einer solchen Sicherheit bestimmt, daß
die logisierende Vernunft vollkommen dadurch verwirrt und
entwaffnet wird " Dies eandere Welt, der die Werke unserer
großen Musiker entstammen, ist die schon von Pythagoras gelehrte
Harmonie der Sphären, die auch Goethe im Auge hat,
wenn es im Prolog zum Faust heißt: „Die Sonne tönt nach
alter Weise / in Brudersphären Weltgesaug."
Auch als Dichter denkt und empfindet Wagner ganz
okkultistisch, wenn er seine Stoffe den Mythen und Sagen
entnimmt. Mag es ihm zunächst nur um das Reiiimen>ch-
liche zu tun gewesen sein, das er dort suchte und fand, so
hat er doch auch gefühlt, daß die Mythen große Weltgeheimnisse
bergen? daß sie, wie er sich selbst einmal ausdrückt,
einen „übermenschlichen und übernatürlichen Inhalt" haben.
Nebenbei gesagt, hinsichtlich der Entstehung der Mythen
teilte Wagner begreiflicherweise die allgemein verbreitete Ansicht
, daß sie Produkte der dichtenden Volksphantasie seien,
während es sich nach geheimwissenschaftlicher Auffassung
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