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Seiling: Eichard Wagner als Mystiker.
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des „Siegfried", wo der Wanderer wie Buddha uns als ein
großer Entsagender entgegentritt. Dieses gewaltige, wie
die Verkündigung der Religion der Liebe wirkende Motiv
erklingt im Orchester unmittelbar nach den Worten: „Froh
und freudig führ' ich frei es nun aus" Daß einzig diese Aus-
legung des Motives die richtige ist, dafür gibt es einen
besonderen, in die Öffentlichkeit noch nicht gedrungenen
Beweis. Die ursprüngliche Dichtung enthält bekanntlich
am Schlüsse der „Götterdämmerung* einige Strophen, die
bei der musikalischen Ausführung des Werkes weggelassen
wurden, weil ihr Sinn durch 3as die Schlußmulik be-
herrschende Thema mit höchster Bestimmtheit bereits aus-
gesprochen wird. Ein Teil dieser Strophen wurde jedoch
1876 zum Geburtstag des Königs Ludwig komponiert. Es
sind die Verse:
Verging wie Hauch
der Götter Geschlecht,
laß* ohne Walter
die Welt ich zurück:
meines heiligsten Wissens Hort
weis* ich der Welt nun zu. —
Nicht Gut nicht Gold,
noch göttliche Pracht;
nicht Haus, nicht Hof,
noch herrischer Prunk;
nicht trüber Verträge
trügender Bund,
nicht heuchelnder Sitte
hartes Gesetz:
selig in Lust und Leid
läßt die Liebe nur sein.
Die Melodie zu den beiden letzten Zeilen dieses so
bedeutsamen Vermächtnisses, in dem die Religion der Liebe
auch mit Worten verkündet wird, ist nun aber genau die
des obigen, ursprünglich dem Buddha zugedachten Themas.
Im „Ring des Nibelungen" finden sich noch gar manche
Anklänge an geheim wissenschaftliche Lehren, zu deren Verständnis
jedoch viel weiter ausgeholt werden müßte, als
es hier geschehen kann. Es sei nur noch hervorgehoben,
daß die Tetralogie ihre Fortsetzung im „Parsifal" erhalten
mußte, nachdem Wagner schon in seiner Abhandlung .,Die
Wibelungen" (1848) die mystische Bemerkung gemacht hatte,
daß der Gral als der ideelle Vertreter und Nachfolger des
Nibelungenhortes gelten müsse.
(Schluß folgt.)
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