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Wöbken: Zum Fall Seiling
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liehen Tatsachen zurückzuführen ? Daß es kaum eine
kühnere Frage gibt als die Nietzsches: „Warum nicht
lieber Unwahrheit ?*, darin wird wohl fast jeder mit Steiner
übereinstimmen, wenn#er vielleicht auch schärfere Worte
gebrauchen würde. Welches ist nun die Antwort Steiners?
Es gehört wirklich schon krankhafte Veranlagung dazu,
anzunehmen, daß Steiner die Lüge preise. Für Steiner
genügt es nicht, daß eine Lehre, eine Behauptung bloß
logisch richtig oder selbst auch an sich wahr sei: denn das
sind bekanntlich auch die Eulenspiegeleien, die als eine
Beispielsart angeführt werden könnten. Um das Aussprechen
einer Wahrheit von Steiner erwarten zu können, muß von
ihr außerdem anzunehmen sein, daß sie dort lebens-
fördernd und nicht wie das deshalb mit Recht verschleierte
Bild zu Sais erstarrend wirke. Würde sie letzteres
tun, dann hält Steiner ihren Gebrauch zumeist für unangebracht
, dann wird er schweigen, aber niemals lügen.
Denn gerade Steiner weist immer wieder darauf hin, daß
jede Lüge für den Betroffenen wie für den Aussprechenden
lebenshemmend, ja ein geistiger Mord* sei. Das könnte
und sollte auch der „Theosoph" Seiling doch wirklich
wissen: er weiß es auch wohl, aber er will es nicht wissen.
Ob man diese Ansicht Steiners für richtig oder unrichtig
halten wird, darauf kommt es hier nicht an, sondern darauf,
daß die Behauptung von der „UnWahrhaftigkeit Steiners*
zum mindesten eine unwahre Ehrenrührigkeit, wenn nicht
noch Schlimmeres ist, die durch keine auch noch so häufige
Wiederholung vonseiten Seilings und seiner Genossen zur
Wahrheit wird.
Eine Sinnesverkehrung ist es auch, was Seiling
mir Seite 322 sagt bezüglich meiner ihm natürlich unnötig
erscheinenden Anführung aus „ Menschenrätseln*,
womit ich das sinnfälschende halbe Zitat Seilings ergänzte.
Letzteres sollte S. 80 unter Anrufung von Du Frei beweisen
, daß Steiner der Ansicht sei, daß „das Denken mit
dem Tode naturgemäß aufhöre" und daß dieser selbe Trugschluß
Steiners noch im „Menschenrätsel" mitgemacht werde.
Das Gegenteil dieser Seiling'schen Behauptung aber ist
wahr: Steiner weiß, daß das gewöhnliche Denken zwar aufhört
, daß aber im Denken ein den Tod überdauerndes
Geistiges erwachen kann. Bei Seiling wird es halt wohl
noch im Tiefschlafe liegen.
Charakteristisch für Seiling ist ferner, daß er bezüglich
seiner Kopfwackelei infolge des erhaltenen „Rucks" die
Aufmerksamkeit davon abzulenken sucht, daß er selbst
auch aus seiner eigenen Schrift „Theosophie und Christen-
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