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470 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. 11. Heft. (November 1917.)
seinen Höhepunkt, weil dem Helden bei Erreichung seines
Zieles die göttliche Gnade zu Hilfe kommt, wie denn das
Weihfestspiel überhaupt eine Verherrlichung des Christentums
ist. Es ist unbegreiflich, wie dies übersehen und behauptet
werden konnte, daß die Idee des „Parsifal* wesentlich
indisch und das Christliche rein dekorativ sei, weil der
Gedanke der Fremderlösung durch Christus vollständig
fehle . . . Das Wort Goethes, daß jede Ansicht gehört
werden solle, ist gewiß berechtigt; nur müssen es eben auch
Ansichten sein und kein unverständiges Gorede. Die Vertreter
jener „Ansicht* sind nicht nur unfähig, die Sprache
der Musik zu verstehen: das Vorkommen des den Gnadenbegriff
so wunderbar verkündenden Gralsmotives an entscheidenden
Stellen, — sondern sie scheinen auch nicht
lesen zu können; sonst hätten die sich auf die Speergewinnung
beziehenden Worte „O Gnade! Höchstes Heil!
Heilig hehrstes Wunder !* sie doch stutzig machen müssen.
Sodann kommt der Erlösungsgedanke auch dadurch zum
Ausdruck, daß die Wunde des sündigen Amfortas einzig
mit dem Speere geheilt werden kann, dessen Spitze in das
Blut des Erlösers getaucht worden. Diese Auffassung ist
um so berechtigter, als uns die mystische Bedeutung dieses
Blutes iu der zweiten Hälfte des Vorspieles Ja unerhört
eindringlicher Weise offenbart wird, — wenu wir Ohren
haben, zu hören. Hierüber habe ich mich in meinem Buche
„Richard Wagner, der Künstler und Mensch, der Denker
und Kulturträger* (C. Kuhn, München) S. 181 f. eingehend
bereits ausgelassen. Mit diesem, sich auf das Ereignis von
Golgatha beziehenden Tnhalt des Vorspieles wird uns von
vornherein gesagt, daß das Drama sich auf christlichem
Grunde erheben wird, wie denn auch der Gral, das Symbol
der Erlösung, im Mittelpunkt der Handlung steht. Und
wenn Wagner im „Parsifal" die Lehre von der Eeinkarnation
wiederholt berührt, so bedeutet das durchaus keinen Widerspruch
mit dem christlichen Charakter des Werkes, da jene
Lehre keineswegs ausschließlich indisches Eigentnm, sondern
bei vielen abendländischen Denkern und selbst in der Bibel
zu finden ist. (Vergl. meine Schrift „Wfcr war Christus?",
C. Kuhn, München, S. 22 f.)
Ferner ist hervorzuheben, daß der „Parsifal" die künstlerische
Darstellung von Gedanken über das Mitleid und
das Mystische im Christentum ist, mit denen sich auch der
Denker getragen hat. Ich muß mich hier auf die Mitteilung
beschränken, daß Wagner im Blute Christi das Heilmittel
erblickt« das „dem ganzen menschlichen Geschlechte
zur edelsten Reinigung von allen Flecken seines Blutes
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