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474 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. 11. Heft. (November 1917.)
versenkt wird; wenn die von Wotan (im 3. Akt des „ Siegfried44
) erweckte Erda erseheint; wenn die Nornen verschwinden
.
Besonders auffallend ist der mystische Charakter der
Musik bei der Schilderung von magischen Einflüssen und
Vorgängen: wenn Ortrud sich anschickt, ihren Gemahl aufs
neue zu betören, unmittelbar vor Friedrichs Worten „Du
wilde Seherin! Wie willst du doch geheimnisvoll den Geist
mir neu berücken?" Noch unheimlicher klingt es, wenn
Kundry von Klingsor heraufbeschworen wird, was diesem
bezeichnenderweise nur gelingt, wenn sein Opfer in Schlaf
versunken ist. Ungemein treffend werden vom Musiker die
Wirkungen des Tarnhelms, des Yergessenstrankes und des
Ringfluches charakterisiert.
Ein hervorragendes Beispiel aus dem „Tristan" ist das
immer wiederkehrende Todesmotiv, wie wir es zum ersten
Male gleich im Beginne zu Isoldens Worten „Todgeweihtes
Haupt! Todgeweihtes Herz!" hören. Dieses Motiv ist ein
treffender Ausdruck für den Zustandswechsoi, wie er mit
dem Übergang vom Leben zum Tode verbunden ist.
In den „Meistersingern" sind die zu den Worten „Die
selige Morgentraunideutweise sei sie genannt" erklingenden
Akforde charakteristisch, weil sie de2 geheimnisvoll?« Zu-
sammenhang zwischen Traum und Dichtkunst andeuten,
entsprechend Hans Sachsens vorher schon gemachten Aus-'
sprach: „All Dichtkunst und Poeterei ist nichts als Wahrtraumdeut
er ei,"
Aus „Parsifal" kann schließlich noch erwähnt werden,
daß die Worte Christi „Nehmet hin meinen Leib, nehmet
hin mein Blut usw." nicht von einer Einzelstimme, sondern
von einem aus männlichen und weiblichen Stimmen bestehenden
Chor gesungen werden, damit die göttliche Stimme
weder männlich noch weiblich klingt*).
Ein besonderes Merkmal des Mystikers Wagner ist die
Rolle, welche die Natur in seinen Dramen spielt. Sie bildet
hier nicht nur einen äußeren Rahmen für szenische Vorgänge
, sondern es findet eine förmliche Verschmelzung von
Natur und Menschenherzen statt, so daß einerseits die Abhängigkeit
des Menschen von der ihn umgebenden Welt
zum Ausdruck kommt, andererseits aber die tote und
stumme Natur zum Leben erweckt wird. Dies wird haupt-
*) Noch ausführlicher behandle ich u. a. den mystischen Charaktei der
Musik in meiner demnächst (im Hans Sachs-Verlag, München) erscheinenden
Schrift „Die Musik im Kunstwerk R. Wagners". W«lch großen Ausdruckes
die Musik fähig ist, zeigt neuerdings auch M. Wirth in seiner originellen,
tief schürfenden Schrift „Parsifal in neuem Lichte" (O. Mutze, Leipzig).
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