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Bamler: Menschliches und Göttliches.
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Steiner gab früher das Übersinnliche nur so weit zu,
als es vom menschlichen Denken erfaßt werden kann.
Seine Erkenntnistheorie, seine »Philosophie der Freiheit *
gründen sich nur auf sein menschliches, irdisches Denken
und gleichen deshalb auf Sand gebauten Häusern. Er lehnt
alles ab, was dem menschlichen Geisteswesen nicht zugänglich
ist. Dabei ist es ziemlich unwesentlich, ob er sich
in diesem Erkenntniskreise von einer mehr materialistischen
zu einer geistigen Auffassung entwickelt hat. Man mag
Steiners frühere Aussprüche deuten wie man will, man wird
immer finden, daß er über diesen menschlichen Kreis nicht
hinausgekommen ist.
Dann aber begann sich seine Anschauung einem neuen
Kreise zu nähern, wie er es in folgender Meditation klar
zum Ausdruck bringt: „Wenn göttlich Wesen sich meiner
Seele einen will, muß menschlich Denken im Traumessein
sich still bescheiden/ (Theos. Kalender.) Damit ist deutlich
ausgesprochen, daß sich zwei Kraftkreise gegenüberstehen
, der des menschlich-irdischen Denkens und der des
göttlichen Wirkens. Wenn sich der zweite im Menschen
kraftvoll erleben soll, muß der erste erblassen und seine
Selbstkraft verlieren. Ein Saulus wurde zum Paulus, als
er vom ersten in den zweiten, vom menschlichen in den
göttlichen Krei3 trat.
Herr Hof rat Seiling, der die Mysterien der Wagnerischen
Musik in unvergleichlicher Weise zu erfühlen und
tiefsinnig zu interpretieren versteht, erkannte mit seinem
dabei geschulten Empfinden, daß ein Teil der Aussprüche
Steiners dem ersten, ein anderer Teil dem zweiten Kreise
angehört. Dieser Kern seiner Darstellung ist unantastbar;
denn der lose in einem Becher hängende Samen einer Eichel
und ein in der Erde festgewurzelter Eichbaum sind zwei
verschiedene Dinge, trotzdem sich eins aus dem andern entwickelt
haben kann. Die frühere Gedankenwelt Steiners
mag sich ja zu seiner anthroposophischen Götterlehre entwickelt
, „erweitert und ergänzt* haben; aber in ihrem
innersten Wesen betrachtet, sind diese beiden Erkenntniö-
arten so verschieden, wie die Eichel vom Eichbaum. Das
ist aber in unserem Falle noch nicht genau genug gedacht;
denn ein Saulus wurde nicht durch sein menschliches Denken
und Streben zu einem Paulus. Wenn" im Menschen keine
anderen Fähigkeiten aufblühen, erweitert sich durch
selbstisches Wollen der Kreis des irdisch-menschlichen
Denkens zu dem des göttlichen Wirkens nimmermehr. Sondern
das Göttliche kann sich vermöge der Gnade gerade den
„Unmündigentf offenbaren; denn »was töricht ist vor der
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