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5C6 Psychische Studien XL1V. Jahrg. 11. Heft. (Noveirber 1917.)
AVeit, das hat Go:t erwählet, daß er die Weisen zu Sehanden
machte« (1. Kor. 1, 25—29).
Betrachten wir nun zunächst den ersten menschlichen
Kreis der denkerischen Weltanschauung Steiners, die er
selbst am besten bezeichnete, als er sich einen „individualistischen
Anarchisten* nannte. Am klarsten wurde seine
Uberzeugung in der „Philosophie der Freiheit* ausgearbeitet,
die nach seiner eigenen Ansicht abstrakt bleiben müsse und
sich in dieser Aufmachung weder auf dem Monde noch auf
der Erde verwirklichen lassen kann und wird. In dieser
*
Philosophie, über die ich in meinem Aufsatz „Das Abbild
Gottes* (Verlag Dr. Vollrath, Leipzig) noch nicht das letzte
Wort gesprochen habe, muß Steiner konsequent die Göttlichkeit
Christi und alles dem göttlichen Kreise Angehörende
ablehnen. Er kann es nicht anerkennen, weil das menschliche
Denken niemals ausreichend sein kann, um in diesen erhabenen
, übermenschliche Gesetze atmenden Kreis zu dringen.
Steiner sagte ja auch selbst in Kristiania 1912: „Wenn der
Philosoph* (der „unbewußt hellseherisch* sein soll) „bei
seiner Philosophie bleibt, ist es ganz unmöglich, etwas
anderes zu finden als einen neutralen Weltengott, niemals
aber einen Christus.* - Die Gegner des Herrn Hofrat
Seiling sind an dieser Hauptsache gewissenlos vorbeige-
schiichen und haben die vielen Druckseiten sinnlos vergeudet.
So erbärmlich wenig haben sie gelernt, das Wesentliche
vom Unwesentlichen zu unterscheiden, trotzdem dies eine
oer ersten Forderungen jeder geistigen Schulung ist. Selbst
wenn die Stellen, in denen Steiner die Göttlichkeit Christi
direkt ablehnt, bei einer Neuauflage vollständig verschwunden
wären, würde nichts geändert sein, denn die Tendenz seiner
\Philosophie der Freiheit* ist durch und durch antigöttlich.
Niemals wird sich eine wahre Freiheit auf das irdische,
enge, hochmütig machende, menschliche Denken gründen,
weil sie nur erreichbar ist, wenn sich der über sein Selbst
hinausgewachsene, durch Mitempfinden geadelte Mensch in
dem zweiten Kreise erleben darf; sonst gilt das Wort
Schillers: „Freiheit ist nur im Eeich der Träume.* - Ed.
v. Hartmann hatte sehr recht mit seinem Urteil, daß mit
Steiners „Philosophie der Freiheit* nichts getan ist, um
dem „Rutsch in den Abgrund der Unphilosophie vorzubeugen
, weil die Gefahr garnicht erkannt ist.* Wenn
Steiner dem Rutsch in den Abgrund durch einen Rutsch
in die übersinnlichen Welten „vorzubeugen* glaubt („Reich*,
1917, II), so zeigt er nur, wie wenig er die Gefahren seiner
Philosophie und seiner Geheimschulung erkennen will. Das
werden aber die hochmütig und taktlos gewordenen Anthro-
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