http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1917/0542
584 Psychische Studien. XI.IV. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1917.)
persönlichen Heilandes; jeder muß sich selbst erlösen von dem
Irrtum der Welt in der schauenden Erkenntnis; unermüdlich geübte
Konzentration ist notwendigstes Erfordernis. Das schauende Er-
leben ist Ziel der asketischen Übungen. Yoga heißt Anspannung
der geistigen Kräfte auf einen bestimmten Punkt. Die Technik
der Kontemplation zeigt sich in der indischen Religion aufs höchste
entwickelt, wobei die Wertschätzung gewisser äußerer Hilfsmittel
bemerkenswert erscheint, ebenso wie der Hinweis auf die durch die
Versenkung zu gewinnenden wunderbaren Fähigkeiten sowie ihre
moralische Seite Wie in allen Religionen, betont auch die indische
die überragende Macht des Geistigen über das Physische
und strebt dahin, sich das Materielle ganz zu unterwerfen. Dabei
gilt das Geistige als das einzig gestaltende, schöpferische Prinzip.
Richtet der Yogin sein konzentriertes Denken auf die physischen
Elemente, so werden diese ihm dienstbar; er durchschaut die Gesetze
und den Plan, nach welchem sie wirken müssen. Gleichviel,
welchen Anteil immer orientalische Phantastik an den Behauptungen
indischer Magie haben mag, eines dürfte feststehen: gibt es
eine weltbeherrschende Wesenheit, so muß derjenige, der sich zu
ihr hingefunden hat, aus dem Dasein der Unzulänglichkeit heraus
frei werden von den Schranken des Weltseins; er muß teilhaft
werden der Ur- und Allkraft und nichts kann ihm grundsätzlich
unmöglich sein; jedes Geschehen und dessen Gesetze liegen in
seiner Hand. Die Beurkundung der Seelenurkrafl im magischen
Wirken, das ist der Sinn der Yogalehre, der Sinn aller wohlverstandenen
Askese, jeglichen Wunderwirkens.
Niemals darf Beherrschung der anderen und Eigennutz Zweck
der Yogapraxis sein, sonst ist sie nur hinderlich auf dem Erlösungswege
; deswegen wird kein echter Yogin seine Wundergabe zur
Schau stellen oder gar umherreisend produzieren. Der Seelenbegriff
des indischen Denkens zieht seine Kraft aus den Erleb-
nissen des Schlafs und seiner Träume. Mit ihm, dem Traumschlaf
und dem Tiefschlaf befaßt sich eingehend indische Weisheit.
Unsterblichkeit ist dem Christen die Erlösung des p e r s ö n -
liehen Ich von der Gewalt des Todes und sein Eintritt in das
ewige wahre Leben. Dem indischen Weisen ist der Tod nicht nur
zu überwinden, sondern ebenso auch die G e b u r t, das nach dem
Tode Immerwiedergeborenwerden. Das Christentum beschäftigt
sich also mit dem Jenseits dieses Lebens, die
indische Religion mit dem Jenseits des individuellen
Lebens überhaupt; der Inder will vom Leben
selbst erlöst sein, er will „entweroW* ins Überindividuelle, er will
zurückkehren zur Wurzel alles Seins, ins Transcendente.
Indisches Denken geht von der ahnenden Erkenntnis aus, daß
individuelles Sein mit seinem konkreten Bewußtsein, seinem diskursiven
Denken, seinem sprunghaften fühlen und Wollen keines-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1917/0542