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538 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1917.
in seine mechanisierte Welt. . . . Aus dem Inventar der Zeiten
wird hier ein Naturkult hervorgesucht, dort ein Aberglauben, ein
Gemeinschaftsleben, eine künstliche Naivität, eine falsche Heiter-
keit, ein Kraftideal, eine Zukunftskunst, ein gereinigtes Christen-
tum, eine Altertümelei, eine Stilisierung. Halb gläubig, halb verlogen
wird eine Zeit lang die Andacht verrichtet, bis Mode und
Langeweile den Götzen töten.....
Wenn so die Welt im Sinnp des Denkens durch und durch
vergeistigt erscheint, so möchte man glauben, daß ungeheure Erleuchtungen
und Fernblicke, wahrhafte Seligkeit des Geistes
unserer Zeit beschieden sein müßten. Nichts dergleichen ist der
Fall! - - Unbewußt fühlt unsere Zeit sich angewidert vom
mechanistischen Denken, sie hat alles schon einmal gehabt, alles
durchgeschätzt, jedes Gefühl sondiert und abgeleitet. Sie weiß,
wie alle diese Rätsellösungen schmecken und wie lange sie vor-
halten. Sie sehnt sich nach einem jenseits des Beweisbaren
stehenden Sinn und schlickt davor zurück, weil er ihr willkürlich
erscheint, und er ist willkürlich, weil er nicht in ihrer Seele liegt.
Deswegen blickt sie auf zu den Geistern, die göttliche Überzeugun-
gen in ihren Seelen tragen, Plato, Paulus, Franziskus, Eckkhardt*)
--Die Zeit sucht ihre Seele und wird sie finden, freilich gegen
den Willen der Mechanisierung!'*--
Hierzu ist nach Rathenau erforderlich: die Gewißheil des
Lebens und des Wertes unserer Seele; denn es handelt sich nicht
darum, die Seele zu erzeugen, sondern sie zu encfesseln. Die
Wünsche nach käuflichen Freuden, nach maßloser Bereicherung
an äußeren Eindrücken, nach Beschleunigung des Seelentempos,
nach Extensivwirtschaft und Raubbau des Geistes werden Schwei«
gen lernen. . . . Die individuelle Freiheit gehört dem inneren Erschauen
und Erleben und seinen Schöpfungen, den Werken der
Transcendenz, des Herzens, der Kunst und des Denkens/* (Von
kommenden Dingen.)
Die vorstehenden Gedanken Rathenau's decken sich mit den
Anschauungen VogPs über die Konsequenzen der einseitigen Diesseitsorientierung
und weisen auf die bereits begonnene Überwindung
der materialistischen Weltanschauung hm; nichts könnte diesen
Prozeß mehr beschleunigen, als die ungeheure Vernichtung von
Menschenleben und von materiellen Werten aller Art durch den
Weltkrieg; und nichts könnte auch die Hinfälligkeit der irdischen
Werte besser demonstrieren, als dieser gewaltige Zerstörungsprozeß
. Somit wendet sich die Menschheitssehnsucht wieder den
höheren seelischen Idealen, dem religiösen Empfinden und den
Gedanken an ein Jenseits, an Unsterblichkeit zu; das tief in uns
schlummernde metaphysische Bedürfnis kommt wieder zu seinem
*) „Meister Ekkhart" ist die richtige Schreibung. — Red.
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