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544 Psychische Studien. XL1V. J*hrg, 12. Heft. (Dezember 1917.)
gebungen, die entfernte Ereignisse schauen lassen, prophetische
Visionen, Erfahrungen des Geistersehens und Geisterrufens, die
mannigfaltigen Phänomene der Verzückung und Mediumität
Der wiederholte Einwurf: Wie sollen denn solche Erlebnisse
Wirklichkeit sein, die doch nichts anderes sind als Illusionen,
Phantasieprodukte des „Unterbewußtseins**, verdankt seine Überzeugungskraft
der populären Metaphysik und dem naiven Realismus
, Damach gilt bloß die Welt des Wachbewußtseins als wirkliche
Welt, nicht die des magischen Grundes. Und doch sind beide
letzten Endes Schöpfungen der gleichen schaffenden Seelentiefe
und beide in gleichem Sinne abhängig und selbständig, wirklich
und nichtwirklich. . . . Jene Zauberwelt seltenen Erlebens ist als
Realität nicht wunderbarer und unerklärlicher als die uns umgebende
Welt des Alltags; es ist ein und dasselbe Problem oder
richtiger ein und dasselbe letzte, nicht weiter zurückführbare
Erlebnis.
Was ist Wirklichkeit?: „Allgemeingiltigkeit und Notwendigkeit
des Erfahrungsinhaltes". Was alle erleben und in gleicher
Lage erleben müssen, das soll den Stempel der Wirklichkeit und
Wahrheit tragen; alles andere soll unwirklich, ein Spiel der Phantasie
, ein subjektives Gebilde sein? Diese Festsetzung ist das Ergebnis
eines stillchweigenden, nur selten klar bewußten Ubereinkommens
. Es ist dem ursprünglichen Erleben unbekannt und
würde von ihm nicht anerkannt werden. Wirklichkeit in dieser
Kennzeichnung hat sich erst im sozialen Leben herauskrystallisiert
aus dem viel weiteren Bereich des Erlebens überhaupt.
Von wirklich zu nichtwirklich geht ein fließendes Werden,
das diesen Unterschied nicht kennt. Jeder noch so vage Traum
ist bruchstückhafte Wirklichkeit*), jedes noch so blasse Erinnerungsbild
ist ein schwacher, oft bis zum dürftigen Rudiment
herabgeminderter Rest eines Wirklichkeitserlebnisses, jede Halluzination
das beginnende Werden einer Wirklichkeit. Jeder vorgestellte
Gegenstand kann in fortlaufender Gradfolge sich zu
einem wirklichen gestalten, gleichwie die vorgestellte Liebe, der
vorgestellte Zorn zu wirklicher Liebe, zu wirklichem Zorn sich
steigern kann. Man könnte sagen: Wirklichkeit ist ein in feste
*) Uebrigens erklärt schon die Vedanta-Philosophie ausdrücklich, daß
die Welt der Erscheinungen eine relative Wirklichkeit habe und von der
Traumwelt streng unterschieden sei. Allerdings steht hinter der Welt der
Erscheinungen das Brahma; dieses nur dem Denker erkennbare Ewige und
Alleine verneint nicht die Wirklichkeit der Erscheinung, — Nach Hegel
besteht die Erscheinung in der ständigen Fortbildung, die vom Ewigen in
das Zeitliche versenkt, im Zeitlichen sich wieder zum Ewigen zu erheben sucht.
So sagt mit Recht Göthe:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
Vergl. Kohler: Sein und Werden, „Der Tag11, Nr. 246. Der Ref.
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