http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1917/0587
Literaturbericht.
579
wissenschaftlich nur das erforscht werden könne, was körperliche
Eigenschaft oder Funktion sei. Auf dem Gebiete der Psychopathologie
seien die anatomischen Konstruktionen immer ganz phantastisch
ausgefallen, sie seien als Hirnmythologien abzulehnen. Es
fehle jede Grundlage für die«e Mythologien, d e Bindenzeilen und
Erinnerungsbilder usw. in engen Zusammenhang bringen wollen,
nicht ein einziger bestimmter Hirn Vorgang sei bekannt, der einem
bestimmten seelischen Vorgang als direkte Parallelerscheinung
zugeordnet sei. Von der Erforschung der höchst komplizierten biologischen
Vorgänge im Gehirn seien wir unendlich weit entfernt.
Die berühmten Lokalisationen gewisser Sprachstörungen (Aphasien)
in einer bestimmten Gehirnwindung bedeute durchaus nicht die
Lokalisation einer bestimmter? elementaren seelischen Funktion,
sondern deute nur darauf hin, daß entferntere Bedingungen jener
seelischen Funktion an diesen Ort gebunden seien. Immer wieder
betont J. das Unzulängliche, ja das grundsätzlich Unzureichende
der Hirnforschung. Damit ist der berühmte Satz: Geisteskrankheiten
sind Gehirnkrankheiten, den Jahrzehnte lang die einflußreichsten
Schulen piedigten, überwunden. J. bestreitet der naturwissenschaftlichen
Forschung das Recht, als die allein mögliche
gelten zu wTollen. Ohne die Gehirnforschung und die Forschung
nach den Ursachen gering zu schätzen, stellt er als gleichberechtigt
die verstehende Psychologie neben sie, die allem der Eigenart des
Seelischen gerecht werden kann, indtm sie uns das Hervorgehen
von Seelischem aus Seelischem verständlich macht; es sind zwei
ganz, verschiedene Denk- und Forschungsweisen, die aber vielfach
sogar in Fachkreisen nicht klar auseinander gehalten werden. Eine
Wissenschaft mit derartigen Anschauungen wird dem Okkultismus
nicht mit den gleichen Vorurteilen entgegentreten wie die materialistische
Kichtung. Nicht als ob damit gleich eine Anerkennung des
Okkultismus verbunden wäre, aber es ist anzunehmen, daß eine
JKichtung, die da«« Eigenartige des See ischen voll anerkennt und die
nicht alles auf die Materie zurückführt und das Seelische als „bloß
subjektiv* ansieht, eher geneigt sein wird, exakten und beweisenden
Arbeiten auf dem Gebiet ues Okkultismus ein Ohr
zu leihen, als alles von vornherein abzulehnen. — Als nicht ganz
hierher gehörig, aber weil von ailgemesiiem Interesse, seien noch
J.s Bemerkungen über Vererbung und Degeneration verzeichnet.
Man hat vielfach die Vererbung überschätzt, in der Wissenschaft
sowohl als in der Laienwelt, die besonders durch viele literarische
Ei Zeugnisse der leUten Jahrzehnte zu dieser Ueberschätzung geführt
wuide. Neue Untersuchungen zeigen, daß die Gesamtbelastung
bei Gesunden und Geisteskranken nicht sehr verschieden ist; allerdings
ist die Belastung von Eltern und Geschwistern bei Geisteskrankheiten
eine starke, es ist jedoch nicht so, daß die erblicne Belastung
wie ein Damoklesschwert über jedem hängt, in dessen Verwandtschaft
psychische Anomalien aufgetreten sind. Geisteskrankheiten
können sich vererben, es ist aber nicht unabwendbares
Verhängnis, es ist ein Ausgleich möglich und er findet in ausgedehntem
Maße statt. Jn Verbindung mit der Vererbung ist auch
die Degeneration ein vielverbreitetes Schlagwort der letzten Jahrzehnte
. Jaspers betont, daß auch da viel Uebertreibung und vorschnelle
Verallgemeinerung vorgekommen sei. Daß die Kultur einen
solchen Entartungsprozeß in Gang bringen könne, sei durch keinerlei
Material bewiesen, von Degenerationszeichen auf körperlichem und
geistigem Gebiet gelte ähnliches, die Autfassung alles Ungewöhnlichen
als „degenerativ* muß gänzlich aufgegeben werden.
Dr. med. It. T i s c h n e r.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1917/0587