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16 Psychische Studien. XLV. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1918)
müdungserscheinung. Mein Erklärungsversuch ist demnach ein
rein mechanistischer. Eine fluidierte Ladung nehme ich bis auf
Weiteres nicht an.
Mein Freund Dr. Bertmann hat mich seinerzeit zu den von
ihm in Brüssel eingeleiteten diesbezüglichen Untersuchungen
herangezogen, die durch den Krieg eine Unterbrechung erfahren
haben. Immerhin gelang es uns durch exakte Messungen zur
Feststellung des Kraftmaßes zu kommen, welches erforderlich
war, die betreffende Bewegung zu bewirken. Genaues hierüber
zu sagen, bleibt einer späteren Zeit vorbehalten. —
Von der Selbsterkenntnis.
Studien von E. W. D o b b e r k a u.
An der Tür des Orakels zu Delphi stand die Inschrift: „Erkenne
dich selbst." Plutarch sagt darüber in seiner Abhandlung
„Über die Inschrift „Ei** im Tempel zu Delphi*4: „Apollo empfängt
einen jeden von uns, der zu ihm kommt, mit den Worten: Kenne
dich selbst — ein Gruß, der gewiß nicht schlechter ist, als das
gewöhnliche: sei gegrüßt, oder: freue dich! Darauf antworten
wir ihm dann mit dem Ausdruck: Ei, d. h. du bist, und bringen
ihm also den echten, unverfälschten, einzigen und ihm allein gebührenden
Gruß, der von seinem Dasein hergenommen ist. Denn
im Grunde können wir auf Dasein gar keinen Anspruch machen,
sondern eine j ede sterbliche Natur schwebt immer zwischen Entstehung
und Untergang und gibt bloß ein Phantom, eine dunkle
und ungewisse Meinung von sich selbst.
Nichts, das entsteht, gelangt zur wirklichen Existenz mit einer
ohne Aufhören immer fortdauernden Entstehung, sondern die Veränderung
fängt schon mit dem Samen an, aus dem der Keim, dann
das Kind, hernach der Knabe, Jüngling, Mann, der Alte und zuletzt
der Greis gebildet wird, so daß immer die ersten Entstehungen
und Alter in den darauffolgenden untergehen. In Wahrheit
ist es lächerlich, daß wir uns vor dem Tode fürchten, die wir
schon oft gestorben sind und noch sterben. Denn der Mann stirbt,
wenn er Greis wird, der Jüngling stirbt in dem Manne, der Knabe
in dem Jüngling, das Kind in dem Knaben, Der Gestrige ist in
dem Heutigen gestorben unH der Heutige stirbt in dem Morgenden.
Keiner bleibt, keiner ist einziger, sondern wir werden viele, indem
nur die Materie sich um ein einziges Bild, um eine gemeinschaftliche
Form herumtreibt und wieder entschlüpft. Denn wie könnten
wir, wenn wir immer dieselben blieben, jetzt an anderen Dingen
ein Vergnügen finden, als ehedem? Wie könnten wir ganz entgegengesetzte
Dinge lieben oder hassen, bewundern oder tadeln?
Wie könnten wir andere Reden führen, andere Leidenschaften an-
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