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28"" Psychische Studien. XLV. Jahrg. 1. Heft (Januar 1918.)
In dieser und ähnlicher Weise waren die Religion und
die Frau in heidnischer Zeit miteinander verquickt. In der
jüdischen Tradition sind es Sarah, Rebekka und Rahel,
welche den Tag verkünden und erwarten, an welchem die
Vision der Jungfrau als glorreiches Idealbild des Ewig-
Weiblichen und der Mutter Aller, in geistiger Helle sichtbar
wird.
Wenn wir diesem Kultus, wenn wir dem Marienkultus
gerecht werden und ihn richtig beleuchten, so erkennen wir
in ihm die einigende Kraft reiner und selbstloser Liebe,
welche Unsitten mildert, das moralische Niveau erhöht, den
Menschen zum strahlenden Ideal christlicher Nächstenliebe
emporführt und wahre Kultur zu begünstigen geschaffen
ist. Frauen sind es auch, welche da dienen in jener Leidenszeit
des Heilandes, und welche göttliche Sendungen vermitteln
. Doch allmählich verkannte die dunkle Macht des
Klerikalisnius diese schöne psychische Eignung der
Frau. Er entzieht ihr das Wort bis zu dem bekannten
Pauluszitat: „sed mulier taceat in ecelesia*. Der Fortschritt
der menschlichen Seele wurde dadurch in unabsehbarer
Weise in seiner Weiterentwicklung gehemmt.
Auf diesem Felde liegt nun offenbar die wieder aufzunehmende
Aufgabe der weiblichen Seele und dr>s weiblichen
Geistes. Frauen stießen die Türe des Heidentumes
ein, um es zum Christentum umzuwandeln. Die fromme
Helena bekehrte ihren Sohn Konstantin; die heilige Genoveva
schwingt das christliche Banner über die erregte
Menge, die sie beruhigt. Clotilde führt die Franken zur
Taufe, die heilige Hedwig das slavische Land zur Höhe
des christlichen Glaubens. Jeanne d'Are, die kriegerische
Jungfrau, folgt den Offenbarungen ihrer göttlichen Sendung
und stellt sich infolge ihrer „ Eingebungen* an die Spitze
der kämpfenden Heere ihres Vaterlandes.
Begeisterte nicht schon in Athen eine Aspasia ihren
Perikles, wie Beatrice ihren Dante, Laura ihren Petrarca?
J^ann man da noch zweifeln an der mittlerischen Kraft und
Aufgabe der Frau? Der Frau der Zukunft liegt es ob,
den kirchlich-christlich gewordenen bzw. gebundenen Geist
nun wieder in einen wahrhaft religiös-christlichen freien
umzuwandeln^ Kein Element ist dazu geeigneter als das
fühlende, im Übersinnlichen webende weibliche!
Das gewissermaßen abzugrenzende Gebiet ihrer Tätigkeit
wird morgen selbstverständlich in anderer Form zu
Tage treten als in vergangenen Zeiten. Die Frau war
früher Herrscherin im Kloster, in dem sie heute Dienerin
irgend einer kirchlichen, männlichen Oberheit sein mag.
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