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Fakirkünsle im Pflanzenreich.
Fakirkünste im Pflanzenreich.*)
Unter den Künsten der indischen Büßer, von denen die Reisebeschreibungen
älterer wie jüngster Zeit so manches Fabelhafte
zu berichten wissen, erscheint das Lebendigbegraben- und Wieder-
erweckenlassen als eine der unglaubwürdigsten und rätselhaftesten
. Und doch ist gerade dies eine der am besten beglaubigten
und nahezu unbezweifelbaren Tatsachen dieser Art, eine Kunst
überdies, die wir in jedem Herbst von unzähligen Mitgliedern des
Pflanzenreiches sowie von zahllosen Wesen aus der höheren und
niederen Tierwelt ausgeübt sehen. Der anscheinende Stillstand
aller Lebensfunktionen, den der Fakir nach jahrelangen Vor-
Übungen für eine gewisse Zeitdauer in seinem Organismus herzustellen
vermag, dieser Stillstand ist ja in der Pflanzenwelt dei
gemäßigten imd kalten Zonen der Normalzustand für die Dauer
mehrerer Monate geworden, und ist uns daher etwas so Alltägliches,
daß es nicht verlohnte, darüber zu reden, wenn nicht die Pflanzen
daneben in der sogenannten Samenruhe eine Erscheinung aufzuweisen
hätten, die alle Fakirkunst, die sogar den hundertjährigen
Schlaf Dornröschens weit hinter sich läßt.
Wenn der Same nach erlangter Reife die mütterliche Pflanze
verläßt, ist er in den meisten Fällen außerstande, sofort zu
keimen und den Kreislauf des Daseins aufs neue zu beginnen.
Es gibt allerdings Beispiele, daß Samen schon am Mutterstock
und in der noch hängenden Frucht keimen, aber das sind Aus-
nahmen. Im allgemeinen Bedarf der Same zunächst einer kurzen
oder längeren Ruhe im Schoß der Erde, der Samenruhe, während
welcher die Lebensfunktionen genau wie beim begrabenen Fakir
anscheinend sämtlich stillstehen. Das Erstaunliche an diesem
Stillstand in der Pflanzenwelt ist die lange, in gewissen Fällen
Jahrzehnte und Jahrhunderte währende Dauer der Samenruhe.
Vor mehieren Jahrzehnten ging das Gerücht durch die Presse,
daß aus ägyptischen Särgen der Pharaonenzeit stammende
Weizenkörner, der sogenannte Mumienweizen, gekeimt seien und
eine gewisse Weizensorte, den Wunderweizen, geliefert hätten, der
damit zum Anbau empfohlen wurde. Das war Reklame, wie vergebliche
Versuche mit sicher aus Mumiensärgen entnommenem
Samen bewiesen haben. Wie aber steht es mit folgender Beobachtung
? Th. von Heldreich, der Direktor des botanischen
Gartens in Athen, sah selbst am Berge Laurion in Attika, daß dort
nach dem Wegschaffen des seit dem Altertum lagernden, drei
Meter mächtigen Minenabraums ein Hornmohn, der bis dahin unbekannt
gewesen war, und zugleich mit ihm in Menge die in Attika
*) Wir entlehnen obigen geistvollen und lehrreichen Aufsatz nach-
fräglich der „lägJ. Unterhaltungsbeilage zur Deutschen Tageszeituga", N. 33,
18. Jahrg. — Red.
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