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62 Psychische Studien. XLV. Jahrg. 2. :J. Heft. (Februar-März 1*918.)
Worten: „Nun will ich Sie führen!u Schweigend brachte
er ihn erst in die Gastzimmer, dann durch alle Räumlichkeiten
durch, vor dem Eintritt in jede Stube und Kammer
die Bestimmung derselben bemerkend, und zuletzt auch
kannte er den versteckten Gartenweg. Fast genauer als
im eigenen Hause kennt er hier jedes Möbel und gibt der
erstaunten Gesellschaft folgenden Aufschluß: während seiner
dreimonatlichen schweren Krankheit habe ihn jeder matte
Krankenschlummer in dies Haus gebracht; er habe in allen
diesen Räumen so oft und so lange verweilt, daß er alles
aufs genaueste kenne. Da er aber den Schauplatz seiner
Träume nie gesehen habe, es also keine Erinnerungen sein
konnten, welche in .der kranken Einbildung wieder aufstiegen
, so habe er es ganz natürlich für phantastische,
kranke Traumbilder gehalten, ohne weiter darauf zu achten.
Man möge nun sein Erstaunen nachempfinden, wie er schon
beim Stillhalten des Wagens, schon beim äußeren Anblick
des Hauses, und immer mehr und mehr seine Traumbilder
verwirklicht sehe!
Er mochte gern bei dieser sonderbaren Erscheinung
seines inneren Sehvermögens verweilen, und erzählte diese
Erfahrung gern und immer getreu Dasselbe, so daß ich es
ebenfalls getreu wiedergeben kann. Nie ist uns über die
sonderbare Sache, die für Wilhelm von Humboldt lebhaftes
Interesse hatte, ein näherer Aufschluß geworden. — Zschokke
gedenkt in seiner Selbstschau eines ähnlichen inneren
Sehvermögens, doch auch sehr verschieden hiervon, da es
fremde Begebenheiten und selbst Heimlichkeiten anderer
vor überführt. — In Humboldts Briefen spiegelt sich auch
noch ein persönliches „okkultes" Erlebnis Charlottes:
„Die Geschichte der Ihnen zuteil gewordenen Warnung"
schreibt er an die Freundin (62. Brief), „ist sehr sonderbar.
Sie wurde Ihnen in dem Moment, wie Sie zuerst Ihre Zustimmung
zu einer Verbindung (Charlottes Heirat) niederschrieben
, die Sie in unendliche Leiden verwickelte. .Noch
sonderbarer, da sie zugleich eine Todesanzeige Ihrer Mutter
war. — Daß Sie wirklich sich haben rufen hören, ist nicht
abzuleugnen. Es ist auch ebenso sicher, daß kein sterblicher
Mensch Sie gerufen hat, in der totalen, abgeschiedenen
Einsamkeit, worin Sie die warnende Stimme vernahmen.
In sich haben Sie die Stimme gehört, wenn sie gleich Ihr
äußeres Gehör zu vernehmen schien. Es gibt gewiß viele,
die das nur als eine Selbsttäuschung erklären würden; . . .
daß es so sein kann, bisweilen so ist, möchte icli nicht
leugnen, wohl aber, daß es nicht auch anders sein kann
und bei gewissen Mensehen unter gewissen Umständen
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