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88 Psychische Studien. XLV. Jahrg. 2.-3. Heft (B^ebruar-März 1918.)
Zu der Kajntel wichtigstem im gesellschaftlichen Leben
rechne ich die innere und äußere Unabhängigkeit der Frau
Eine innere Unabhängigkeit vor allem in Sachen der Liebe.
In keinem Falle, gleichviel ob von Seiten des Mannes oder
der Frau, darf Liebe oder Liebesäußerung von einem Monopol
belastet werde**!
Man weiß zur Genüge, wie viel Kummer und unnötigen
Zwiespalt, ja öffentliche oder heimliche Tragödien dieses
allgemein übliche Monopolisieren an sich freier Regungen
oder auderswie gerechtfertigten Verhältnissen gegenüber zur
Folge hatte. Abgesehen von allen, trotz aufklärender
Schriften üblen Erfahrungen im gebildetsten Familien- und
Freundeskreis, immer noch zu begegnenden Widerständen
in Fällen der sogen. „ Ledigen * bietet augenscheinlich das
„Institut der Ehe* das größte Hindernis zur Erreichung
dieser Unabhängigkeit.
Ich habe diese und andere einschlägige Fragen schon
früher in zwei Broschüren behandelt und bitte nochmals,
keinerlei Gegnerschaft oder Kritik solcher von mir vorauszusetzen
, die aus Gründen des Herkömmlichen, der größeren
(jedoch auch nur relativen) Garantie der Bequemlichkeit,
aber auch aus Uberzeugung, die legale der freien Ehe vorzogen
oder noch vorziehen und sie gemäß den Anschauungen
ihrer Zeit auch hoch halten, weil jene, heute erst
allmählich zu lösenden Probleme noch nicht so herrisch an
die Tür klopften, die Seelen dafür noch nicht gereift waren.
In der kapitalistischen Gesellschaft ist selbstredend die
legale Ehe, sei sie kirchlich oder standesamtlich beglaubigt,
eine unbedingte Notwendigkeit, weil die Frau, durch ihre
Erziehung und die sämtlichen Einrichtungen, dort auf die
Hilfe des Mannes angewiesen, sieh einen Rückhalt für sich
und ihre Nachfolge auf gesetzlichem Wege sichern muß.
Wer aber die mannigfachen Kompromisse und scheinbaren
Garantien zu Ungunsten reiner, schöner und dauerhafter
Liebesbeziehungen nicht mehr mitmachen will, gelangt von
selbst zu der Erkenntnis, daß auf Seiten der legalen Bindung
wesentliche Erleichterungen schon jetzt zugestanden werden
müssen (erleichterte Scheidung, Erweiterung*der Seheidungs-
gründe, gesetzliche Aufhebung der Gütergemeinschaft u. a.»
und daß zu Gunsten edler Liebesbeziehungen unter den
Menschen im allgemeinen noch viele wesentliche Änderungen
eingeführt werden können. Doch nur innerhalb eines
Kreises von Gleichgesinnten, deren ökonomische und moralische
Basis dies mit Rücksicht auf die Frau in ihren sämtlichen
, nicht nur den einseitigen Fortpflanzungsfunktionen
gestattet.
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