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90 Psychische Studien. XLV. Jahrsr. 2.-:t. Bef*. (Februar-März 1913.)
statt, daß sie dieselbe einfach anspricht und dadurch vielleicht
einem gegenseitigen Wunsch entgegenkommt. Und
wenn dies selbst nicht der Fall und das Interesse nur einseitig
wäre, was tut's ? Welch' tiefen Blick in die Psyche,
in das Scheinwesen des modernen Menschen gestatten diese
Kleinigkeiten! — Wie viele lästige Bemühungen könnten
erspart werden, wie viel näher würden die Menschen einander
treten durch die vom Standpunkt der Vernunft doch
eigentlich selbstverständliche Aufhebung all' dieser „Chinoi-
serien* und durch Befolgen eines einfachen Herzenstaktes!
Tnd weiter: Warum führt die Frau nicht genau so
ihren eigenen Geburts- oder Wahlnamen, wie jeder Mann
dies tut? Warum dies wesenlose Verschwinden unter die
oft recht fragliche „Obhut" des männlichen Namens*1 Selbst
im Falle irgend einer Legalisierung von Bündnissen, die
als „Sakrament"* an sich m. E. ja keiner solchen bedürften.
Es spricht ein klägliche^ Mißtrauen und eine Nichtwürdig-
ung andererseits aus diesen „Csancen*, denen Meli bisher
meist nur die Künstlerinnen — und mit Erfolg — entzogen
haben.
Wozu ferner die peinliche Unterscheidung des jungfräulichen
vom frauenhaften Zustande im Leben der reifen
Frau? Warum diese Stempelung irgend einer sexuellen
Betätigung dort, wo Frauen wirkliche innere Würde und
Zartgefühl besitzen ? Solch* einen Stempel verleiht aber
die Bezeichnung „Fräulein* der reifen, selbst noch jungen,
aber selbständig Handelnden: auch sehr zum Unrecht
mancher älteren, nicht vor dem offiziellen „Prüfungsrat*
zur „Verheiratung" konzessionierten. — Man verstärkt auch
noch diesen „Affront* einer ganz unstatthaften Einmischung
in persönlichste Angelegenheiten durch den in der Gesell-
schaft üblichen Beisatz des „alten Fräulein", dieweil manche
von ihnen, allein schon durch ihre mutige Selbst Vertretung
den Titel „Frau* eher verdienten als manch1 andere, eben
vom Traualtar kommende, welche sich hinter dem bequemen
Schutzwall des ihr fehrlieh oder nicht) den Arm reichenden
„Gemahls11 verschanzt, um womöglich durch irgend einen
von demselben ganz widerrechtlich angenommenen „Doktor*
oder „ Geheimrat* oder anderen Titel den Schein ihrer
Würde noch zu erhöhen (in Wahrheit aber, um ihre Schwäche
noch zu verbergen). Dies sage ich nicht aus Tadelsucht,
sondern aus Liebe zu meinem Geschlecht. Kein Wunder,
daß der Mann im Allgemeinen die Frau heute noch so
gering bewertet; jedenfalls würde er aber den Frauen oder
der Gesellschaft nicht gestatten, ihn „Männlein41 oder „Herrlein14
oder gar „altes Männlein* zu nennen. ^Sehrgut! Hedj
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