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*
Briefkasten
III
de? Interesses steht in ihrem „zeitlosen Roman* ein Medium, der
uneheliche Sohn eines geistreichen Narren, ein scheinbarer „Depp*,
der aber „Geister* sieht und auch andere Personen so stark beeinflußt
, daß sich bei ihnen das „zweite Gesicht* entwickelt.
Alles was wunderlich an dem Menschen ist, was Ahnung, Vor-
gef ühi oder wie immer genannt werden muß, ist an die Erde gebunden
, in der er aufwuchs, daher hat jeder Sterbliche ein „Erd-
fesicht*; „dieses Land, die Luft — die Erde hat den (sie!) seltsamen
ufluenz auf ihn.* [Wozu aber das häßliche Fremdwort? Abgesehen
von Fällen, wo der Gesprächston der betreffenden Gesellschaft*.
schicht sich in derartiger Vornehmtuerei gefällt, würden doch Fremdwörter
wie Elan (Schwung), die Crapüle (Pöbel, von Wüstlingen), grazil
fanmutig), Meditation, Sensation — auf S. 219 steigt der Verfuhrer
sogar auf einer „affektvollen Treppe hinauf*! — Charme, Attitüde u.
dergL besser vermieden, j Die ergreifende Handlung endet mit der Befreiung
des Helden aus den Fesseln ihn herabziehender irdischer Liebe
durch Selbstmord. „Sollten wir darum glauben, daß seine Seele sterblich
war? Laß uns wissen, daß sie das große Licht finden wird, was hinter der
Zeit und ihrem irrsal und hinter dem Schmerz des Todes brennt. Laß
uns glauben, daß er nach Leben und Einsamkeit und Verirrung endlich
Gott schaut.* — Auf noch düstererem Hintergrund spielt sich die zweite
Novelle ab, deren Heldin, die berückend schöne Dänin Dagmar,
am Sarkophag ihres heißgeliebten Gemahls Philipp Ißerstedt den
als Krönung des Lebens gedachten unerbittlichen Tod als Verlust
der Menschheit empfindet. Atavistischer Aristokratenwahnsinn verbindet
sich da mit den* Gepränge melancholischer Prachtentfal tung ;
in ihrer „ekstatischen Entflammung dem Ewigen, Gott, dem Himmel
zu versinken irdische Wünsche*. Aber in dem schauerlich auf regenden
Augenblick, wo der alte Diener in der Familiengruft die haarsträubende
Entdeckung gemacht hat, daß aus einem Loch im Metallsarg
.„Durchlaucht tropft*, zeigt sich das ganze Heldentum der Kraft
des Glaubens und leidenschaftlicher Frauenliebe, indem die stolze
Frau an die Brust der in einen andern Sarg gelegten Leiche hinsinkt
. Allein die wahnsinnige Angst, das Grinsen aus dem Nichts,
hat ihr das Herz aus dem Leibe gerissen und sie in ein wüstes
Meer der Einsamkeit geschleudert, aus welchem sie erst die Stimme
aes heißblütigen Verführers zu neuem Leben erweckt. Nun er-
bt heint ihr aber das trostlose Gesiebt des toten Gatten und überzeugt
sie, daß aller Schrecken „nur der Wegist, nicht das Ende*, daß
ihrer Leiber Beraubte noeh zurückverlangen nach einer Sekunde
irrsinnigen Gespensterglückes. Sie, die keine Begriffe, keine Gedanken
mehr besessen, »8 ah mit entbundenem Auge: es gibt keinen
Tod, es gibt nur einen ewigen Weg und ein endloses Ringen!* —
Auch dieses gedankenschwere Werk der hochbegabten Dichterin ist
durchleuchtet von der eigentümlichen Schönheit eines über alle Erden-
uöte triumphierenden Unendlichkeitsgefühls. Fritz Frei mar.
Briefkasten.
Herrn Lehramtskandidat Hänig (z. Z. Gefr. im Feld) danken wir
verbindlichst für die unserer nach wissenschaftlicher Methode die
Wahrheit suchenden „unparteiischen* Schriftleitung zum Abschluß
dieses weiteren Kriegsjahies ausgesprochene Anerkennung streng
sachlicher Mühewaltung. Dem von Ihnen angekündigten, demnächst
bei O. Mutze in Leipzig erscheinenden Buch, das Ihre wertvollen,
vielfach in das okkulte Gebiet einschlagenden literarischen Arbeiten
m einer fortlaufenden Eeihe ausgewählter,Stimmungsbilder* sammeln
soll, sehen wir, wie ohne Zweifel auch viele unserer Leser, mit lebhaftem
Interesse antgege*. Glück auf!
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