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Schwant je: An die Karl-Zeiß-Stiftung in Jena. 155
gegen die Errichtung der neuen Vivisektions-Anstalt nur deshalb
nicht in der Presse geäußert worden sind, weil die meisten Laien
ms den Mitteilungen über die beabsichtigten Experimente nicht
erkennen konnten, daß mit vielen dieser Versuche Tierquälereien
\erbunden sind. Wir wissen», daß solche Forschungen von vielen
der geistig höchststehenden Zeitgenossen entschieden verurteilt
werden; und wir sind davon überzeugt, daß viel weitere Kreise
sich der Bewegung gegen die Vivisektion anschließen würden,
wenn die Presse die die Vivisektion betreffenden Fragen nicht
nur von Vivisektoren und deren Anhängern, sondern unparteiisch
auch von deren Gegnern behandeln ließe.
Wir glauben daher, im Namen von Tausenden zu sprechen,
wenn wir unsern tiefen Schmerz darüber ausdrücken, daß in
einer Zeit, in der die Menschheit unter den Folgen ihrer Grausamkeit
bis zur Unerträglichkeit leidet, in der nur die Pflege allumfassender
Liebe die schlimmste sittliche Verwilderung
und den Untergang der Kultur abwenden kann, in der also keine
andere Aufgabe so wichtig ist wie die, das Mitleid und das Gerechtigkeitsgefühl
in den Menschenherzen zu wecken, — daß in
einer solchen Zeit eine hochangesehene, aus edlen humanitären
Motiven gegründete Stiftung ein Institut errichtet hat, in welchem
wehrlose Tiere gemartert werden sollen, zwecks Gewinnung
wissenschaftlicher Kenntnisse, deren Erlangung diese Tierquälereien
durchaus nicht rechtfertigen würde.
Wir sind der Ansicht, daß auch die wissenschaftliche
Forschung den Gesetzen der Sittlichkeit unterstellt werden muß
und daß das Sittengesetz die Folterung von Tieren zum Zwecke
der Förderung der Wissenschaft verbietet. Voltaire, der
ebenfalls die Vivisektion mit scharfen Worten verurteilte, sagte,
daß jedes Zeitalter seine Tiger habe. In früheren Jahrhunderten
war es vorwiegend ein religiöser Wahn, der den Menschen einen
Vorwand zur Ausführung grausamer Handlungen lieferte. Dieser
Tiger ist jetzt schon lange tot. Die gefährlichsten Tiger unseres
Zeitalters sind ein mißleiteter nationalistischer Patriotismus und
die Überschätzung der Wissenschaft. Auch
diese beiden Tiger unschädlich zu machen, hat unsere Gesell-
schaft sich zur Aufgabe gestellt. Unser Kampf gegen die Ent-
artung des Pariotismus wird uns durch die Folgen dieses Krieges
sehr erleichtert werden. Schwieriger ist unsere Arbeit gegen die
Entartung der wissenschaftlichen Forschung. Jedoch auch sie ist
nicht aussichtslos; und wir werden durch kein Opfer, das diese
Arbeit uns auferlegt, und durch keine Anfeindung uns beirren
lassen in unserm Streben, die Menschheit von dem Wahne zu befreien
, daß der wissenschaftliche Forscher nicht an die allgemein
gültigen Gebote der Sittlichkeit und der Gerechtigkeit gebunden
sei, vlnd daß ihm erlaubt werden müsse, den Erkenntnistrieb durch
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