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220 Psychische Studien. XLV. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1918.)
beim Durchziehen durch so vieles Volk irgend ein mißgünstiges
Auge sie getroffen hat* — Da sagte er mit ironischem
Lächeln: „Glaubst du denn auch, wie der große
Haufe, an schlimme Augen?* — „So gut als an irgend etwas
anderes Wahrhaftes*, antwortete jener. Die Sache verhält
sich so. Diese uns umfließende Luft strömt durch die Augeu,
durch die Nase, durch den Atem und die anderen Durchgänge
(Poren) in die Tiefe ein, und indem sie die äußeren
Qualitäten mit sich hineinführt, verursacht sie auch bei
denen, die sie in sich aufnehmen, eine ihrer Einströmung
ähnliche Affektion. Wenn also jemand das Schöne mit neidischem
Gefühle anschaut, so erfüllt er das ihn Umgebende mit
einer mißgünstigen Qualität und trägt den von ihm ausgehenden
, mit Bitterkeit angefüllten Hauch auf den Nächsten
über. Dieser dringt als ein aus zarten Teilen bestehender Stoff
bis auf die Knochen und das Maik ein und so wurde vielen
der Neid, der nun den eigentümlichen Namen der ßaskanie
(Augenzauber, Bezauberung durch den bösen Blick, besonders
gegen Kinder und glückliche Personen, auch gegen
Vieh und Feldfrüchte gerichtet; um die Wirkung zu
vernichten, pflegte man dreimal auszuspucken oder gewisse
Formeln auszusprechen) bekam, eine Quelle der
Krankheit. Auch dieses, o Charikles, erwäge, wie viele
mit Augenkrankheiten, wie viele von einem pestartigen
Zustande angesteckt wurden, ohne die Kranken berührt,
ohne ihr Bett oder ihren Tisch geteilt zu haben, bloß
und allein durch die Gemeinschaft der Luft. Wenn aber
irgend etwas meine Behauptung bestätigt, so ist es die
Entstehung der Liebe, bei weicher das bloße Sehen den
Anlaß gibt und die Leidenschaft gleichsam windschneli in
die Seele geschleudert wird. Auch ist dies ganz natürlich.
Denn der Gesichtssinn, der von den Zugängen in uns uud
den Sinnen das Beweglichste und Feurigste ist, wird empfänglicher
für die Ausströmungen und zieht durch den
feurigen, in ihm liegenden Geist den Uebergang der Liebe
herbei. Soll ich dir beispielshalber einen Grund aus der
Natur beifügen, der in unsern heiligen Schriften von den
Tieren angeführt wird, so heilt der Charadrius die Gelbsüchtigen
. Wenn ein solcher Kranker diesen Vogel ansieht
, flieht dieser und wendet sich ab und schließt die
Augen, nicht, wie manche glauben, weil er ihm die Hilfe
mißgönnt, sondern weil es seine Natur mit sich bringt,
durch das Anschauen die Krankheit anzuziehen und wie
einen Strom auf sich abzuleiten; und deshalb weicht er den
Blicken wie einer Verwundung aus. Und daß von den
Schlangen der sogenannte Basilisk durch seinen bloßen Blick
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