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262 Psychische Studien. XLV. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1918.)
windliche Abneigung der Gegner nicht ihre Lehren, und zu
den Leuten, die sich dergleichen Dinge wegen ihrer modernen
Verschulung nicht vorstellen können, gehörte
Goethe nun eben n i c h t! Er war eben allen mysteriösen
Erscheinungen ungemein und au« eigener Erfahrung
sehr zugänglich, und wenn er sich auch mit der Astrologie
nicht näher und nicht praktisch beschäftigt hat, so erfahren
wir den Grund davon aus seinem eigenen Munde. Er hat
sich trotz so vielseitiger naturwissenschaftlicher Tätigkeit
nämlich auch nicht mit Astronomie befaßt, und in
den Gesprächen mit Eckermann 1. vom 1. Februar 1827
erklärt er, daß seine Richtungen in den Naturwissenschaften
immer nur auf die unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren
Dinge der unmittelbaren Umgebung gegangen wären, weshalb
er sich denn auch nie mit Astronomie beschäftigt habe,
weil hierbei die Sinne nicht mehr ausreichen und man hier
zu Instramenten, Berechnungen und Mechanik seine Zuflucht
nehmen müsse, die ein eigenes Leben erfordern und
die nicht seine Sache waren. Prof. Boll legt sich seiue
Neigung für die Astrologie nun dahin aus, daß er zwar
nicht daran „geglaubt*, sie aber verstau den habe.
Was heißt das? Sehen wir uns sein Verhältnis zu ihr
aber einmal näher an. Er schreibt ins Brockenbuch einen
Spruch des die Astrologie verherrlichenden römischen Dichters
Manilius, und wenn man die beiden schönen astrologischen
Sonette der orphischen Urworte noch nicht als Bekenntnis
und Ueberzeugung auffassen wollte, so hat er doch auch
in Prosa versucht, sich den Glauben an die Astrologie
zu erklären in dem Briefe vom 8. Dezember 1798 an
Schiller, wo es heißt: ,Der astrologische Aberglaube ruht
auf dem dunklen Gefühl eines ungeheueren Weltganzen.
Die Erfahrung spricht, daß die nächsten Gestirne einen
entschiedenen Einfluß auf die Witterung, Vegetation usw.
haben, man darf nur stufenweise immer aufwärts steigen,
und es läßt sich nicht sagen, wo diese Wirkung aufhört.
Findet doch der Astronom überall Störungen eines Gestirns
durch andere. Ist doch der Philosoph geneigt, ja
§enötigt, eine Wirkung auf das Entfernteste anzunehmen,
o darf der Mensch im Vorgefühl seines Selbst nur immer
etwas weiter schreiten und diese Wirkung aufs Sittliche
auf Glück und Unglück ausdehnen. Diesen und ähnlichen
Wahn möchte ich nicht einmal Aberglauben nennen, er
liegt unserer Natur so nahe, ist so leidlich und lässig aK
irgend ein Glaube.*
Ein „Wahn", der kein Aberglaube mehr ist, und den
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