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Ein Spukerlebnis EichendoriFs
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sein Freund Graf X. An den dunklen Winterabenden pflegten
die jungen Leute mit noch anderen Freunden zusammenzukommen
, und zwar einmal auf dem Schlosse EichendorfPs,
das andere Mal auf dem Schlosse des Grafen. An einem
dieser Abende, in EichendorfPs großem, nur von zwei silbernen
Armleuchtern erhellten SchloBsaal sprachen die Freunde
von Spukgeschichten, wobei einige lachend erklärten, daß
sie an solche Dinge nicht glauben können. Der Graf allein
saß still und nachdenklich und sagte auf eine Frage EichendorfPs
: fIch kann darüber mit Euch nicht lachen, denn in
meinem eigenen Schlosse geschehen wunderbare Dinge. Ich
lade Euch alle ein, morgen zu mir auf mein Schloß zu
kommen, wir wollen dann jedes Gespräch über Mystisches
vermeiden, um nicht gewaltsam in eine erregte Stimmung
zu kommen, und werden dann sehen, was passiert*
Die Freunde versammelten sich also am nächsten Abend
bei dem Grafen, tranken mit Absicht nur leichten Wein
und unterhielten sich, der Verabredung gemäß, über gleichgültige
Dinge. Einige Minuten vor 12 Uhr erhob sich der
Graf und bat die Freunde, ihm zu folgen. Er führte sie
durch dunkle Korridore bis zur breiten Treppe, die durch
alle Stockwerke des Schlosses einer. Am Fuß der Treppe
machte er vor einer hohen, eisenbeschlagenen Türe Halt
und erklärte, daß es seit 100 Jahren niemand gelungen sei,
diese Türe zu öffnen. Manchmal, in dunklen Winternächten,
aber gehe die gespenstige Türe leise von selbst auf, und
es erscheine eine schlanke Frauengestalt, die die Treppe
hinauf eile. Um dies den Freunde/ zu zeigen, habe e/L
hierher gerufen.
Ein junger Diener, der am gleichen Tage in Dienste
des Grafen getreten war und darum von diesem Schloßspuk
keine Ahnung hatte, hielt am Fuße der Treppe eine
brennende Kerze. Stumm und erwartungsvoll standen die
Freunde in einem Kreise, nur Eichendorff lehnte mit
dem Rücken an die gespenstische Türe. Da fühlte er plötzlich
, wie die Türe hinter ihm langsam zurückwich, er wandte
sich erschrocken um, und alle erblickten eine schlanke
Frauengestalt, Gesicht und Haar mit einem grauen Schleier
umhüllt, die die Treppe hinauf eilte. Der junge Diener hielt
die Dame für eine durchaus natürliche Erscheinung und
überholte sie, um ihr auf den Stufen voranzuleuchten. Auf
halber Höbe teilte sich die Treppe, der Diener bog links
ab, aber auf eine nach rechts weisende Bewegung der Dame
wandte er sich und leuchtete ihr weiter.
Da vernahmen die Freunde plötzlich einen furchtbaren
Schrei, und das Licht erlosch. Lange standen sie in stummem
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