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Literaturbericht.
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mit ihrem geisttötenden Buchstabenglauben und ihrer nach Alleinherrschaft
strebenden Unduldsamkeit der ärgste Feind wahrer
Herzensreligion geworden ist, kann als allmählich absterbender
Organismus bezw. als gesellschaftliches Unternehmen auf die Dauer
keine Abhilfe bringen. Dagegen birgt der so arg verspottete und
verlästerte Spiritismus, wenn man von seinen Ausartungen uud Mißbräuchen
absieht, durch den Hinweis auf erfahrungsmäßig festzustellende
Tatsachen einen goldenen Kern, dessen Loslösung aus
einer vielfach abstoßenden Schale des Schweißes der Edelsten wert
ist. Die dadurch gewonnene persönliche Ueberzeugung von einem
individuellen Fortleben in einem höheren Jenseits ist der mächtigste
Antrieb zur Veredelung, zu freudiger, gewissenhafter Pflichterfüllung
und damit zugleich zur politischen und sozialen Gesundung. Das
Heil der Menschheit kann niemals rein äußerlich, sondern nur von
Innen heraus kommen, wie ja auch ein Jesus sein „Beich Gottes
auf Erden" erwartete. Die von Okkultismus erstrebte Erkenntnis
übersinnlicher Wahrheiten verleiht allein die Kraft, vermöge eines
gesunden Egoismus ein moralisches Gesetz zur Grundlage der
Sichtung auf höhere Ziele zu machen. — Verf. kleidet nun mit
Geschick seine eingehende Belehrung über die spiritistischen Tatsachen
in ein Gespräch zwischen einem Hamburger Schiffszimmermann
Tambke, der vor zwei Jahren seine treue Lebensgefährtin verloren
und bei diesem Todesfall das Morsche und Hohle der kirchlichen
Tröstungen durchschaut hat, und einem aus Amerika nach
seinem Geburtsort Stade zu lückgekehrten ehemaligen Juristen,
späteren Maler und Photographen Tomfohrde, der den Freund in
das wissenschaftliche Studium des Spiritismus einführt. Der Erforschung
der Bedingungen, welche den Eintritt der betreffenden
Erscheinungen ermöglichen, schließt sich ein geschichtlicher Ueber-
blick, ein Erklärungsversuch für Somnambulismus und Spiritismus,
eine Anweisung für magnetisches Heilverfahren, sowie für Abhaltung
spiritistischer Sitzungen, und endlich eine passende Auswahl aus der
reichen einschlägigen Bücherei an. Verf. versichert im Vorwort,
daß es sich nirgends um Dichtung, sondern ausnahmslos um wahre
Erlebnisse handelt: während der 1829 geborene Tomfohrde schon 1881
in die jenseitige Welt hinübergegangen ist, erfreut sich der jetzt
81jährige „Vater Tambke" mit seiner nun 51 jährigen Tochter Betty
noch immer der besten Gesundheit. — Bekanntlich brechen sich
alle großen Wahrheiten nur langsam Bahn; so reift auch das Volk
in seiner Gesamtheit der Erkenntnis des zunächst nur in Familien
verbreiteten, aber in unerschütterlichen Tatsachen verankerten Spiritismus
allmählich entgegen, dessen Siegeszug eben jetzt zu beginnen
scheint, wo die gesamte Menschheit durch die Gräuel des Weltkrieges
nahe an den JKand des ökonomischen und moralischen Abgrunds
geführt wurde. Da drängt sich doch jedem tiefer denkenden
und fühlenden Menschen unwillkürlich die Empfindung auf, daÄ er
etwas mehr sein muß, als ein Häufchen Dreck, das vom Wind verweht
wird. Verf. warnt aber eindringlich vor jeder Selbsttäuschung
und Phantasterei, die der guten Sache nur schaden kann. Im
Gegensatz zu jener ungesunden Schwärmerei und Frömmelei, die
das Erdendasein verachten zu dürfen glaubt, in welcher Terf. eine
künstliche Züchtung (nicht „Züchtigung", leidiger Druckfehler auf
S. 81!) der auf Abwege geratenen Kirche erblickt, soll der wissenschaftlich
betriebene und verstandene Spiritismus im deutschen Volk
und in der ganzen Menschheit eine neue Weltanschauung begründen,
die nach oben führt. Wenn man Büehner's „Kraft und Stoff* die
Ä Bibel der Sozialdemokratie* genannt hat, so kann man wohl Ohl-
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