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412 Pyschische Studien. XLV. Jahrg. 10. Heft (Oktober 1918.)
Grade symbolischer Umständlichkeit getrieben wurde, so
entsprach dies weniger Schönheitszwecken, als vielmehr
religiösen Absichten.
Zumal die Schminke war bei den Aegyptern kein
Mittel, die unvermeidlichen Spuren des Alters zu verwischen
. Sie diente vielmehr dazu, sich den Geist der
Göttin Hathor einzuverleiben, deren rötliches Antlitz man
in ihren Tempeln leuchten sah und deren Wangen und
Lippen mit Scharlachrot lebhaft gefärbt waren. Denn
Hathor, die kriegerische Göttin, war jene, die an der Spitze
der ersten Eroberer ihren Einzug in Aegypten gehalten
hatte und die Schirmherrin der Gründung von Uph geworden
war, welches die Griechen später das hunüerttorige
Theben nannten.
Später aber wagten »es jene Eroberer, stolz auf ihre
Macht, die großen ägyptischen Götter durch ihre Spöttereien
und ihr unfrommes Wesen zu reizen.' Deshalb beschlossen
diese die Vernichtung der Frevler. Die Göttin Hathor
stieg vom Himmel herab, um jene zu bestrafen. Da hob,
den ganzen Nil entlang, ein großes Morden an. Nicht nur
der Fluß färbte sich rot von dem vergossenen Blut, sondern
die Priester der gekränkten Götter konnten damit noch
neuntausend Krüge füllen, welche sie ihren Gottheiten
weihten. Die Götter aber, durch den scharfen Geruch eines
solchen Opfers versöhnt, beruhigten sich. Sie befahlen
ihrer wilden Schwester, zu ihnen zurückzukehren.
Hathor aber, die an ihrem grauenvollen Vernichtungswerke
Gefallen gefunden hatte, gehorchte ihnen nicht.
Darum flößten die Götter dem Volke von Theben den
Gedanken ein, eine Unzahl von Mandragorabäumen*) umzuhauen
, ihr Blut mit dem Blute der neuntausend Krüge
zu mischen und von der Spitze des Osiristempels diesen
Blutstrom ins Land hinausfließen zu lassen. Und so geschah
es. Im Scheine des weißlichen Lichtes, welches von
einem stahlblauen, metallenen Himmel herabstrahlte, wälzte
sich die Blutwelle vorwärts, erwärmte sich und hauchte
einen kupfrigen Dunst aus, der den Horiaont trübte. Der
Blutstrom wälzte sich durch die Felder, rasch wie eine
Feuersbrunst in trockenem Strauchwerke, und bald sah
sich Hathor in ihrem siegreichen Marsche dadurch aufgehalten
. Ueber den Blutstrom aber beugte sie sich mit
Wohlgefallen, um den Geruch aus nächster Nähe einzuziehen.
In dem leuchtenden Spiegel desselben erblickte sie plötzlich
*) Wer unter einem Mandragorabaume ruht, so geht die Sage, schläft
ein, ein Sterblicher, um nieht mehr zu erwachen.
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