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I
516 Psychische Studien. XLV. Jahrg. 11. Heft. (November 1918.)
Ich war seine Vertraute, seine Beraterin in allem. Wir
waren unzertrennlich, bis uns das Geschick weit auseinander
führte.
Welcher Schmerz war es für mich, als ich aus seinen
Briefen entnehmen mußte, daß ihn ein schweres Brustleiden
befallen hatte.
Es litt mich nicht mehr; mit dem ersten Frühlingswehen
machte ich mich auf die Reise in die liebe traute Heimat.
Ich fand Ludwig wohl sehr leidend, aber an ein letztes
Scheiden dachte keines von uns. Während dieses, ach viel
zu kurzen Beisammenseins hatte er wieder tausend Gedanken,
wovon sein Kopf immer so voll war — hundert Zukunftswünsche
und Pläne in mein Herz niedergelegt, und ich
fuhr nach schwerem Abschied wieder zurück in's fremde
Land.
Ich erhielt einige Zeit wieder die kurzen Kartengrüße
und dann blieben alle Nachrichten aus.
Am 6. Mai ging ich zur gewohnten Stunde zur Ruhe,,
aber ich konnte keine rechte Ruhe finden; eine innerliche
Unrast hielt mich wach; klar und deutlich hörte ich noch
die elfte Stunde sehlagen. Dann war es doch, als wollte
sich der ersehnte Schlummer auf die Augen senken, aber
ich fuhr mit einem Schrei empor.
Das Fenster und der Balkon waren fest geschlossen,
der Vorhang zugezogen, dennoch löste sich ein weißer,
liehtumflossener Schatten aus dem Rahmen des Fensters
und schwebte dicht an das Bett heran. Ein kalter Hauch,
wie ein plötzlicher Luftzug, wehte mir über das Gesicht
und ich hörte klar und deutlich Ludwigs Stimme sagen:
„Ich wollte dich nur noch einmal sehen. . .* Ich taumelte
auf, kleidete mich an und verbrachte in einer furchtbaren
seelischen Erschütterung den Rest der Nacht. Um neun
Uhr den nächsten Yormittag erhielt ich ein Telegramm des
Inhaltes: „Ludwig gestern um 6 Uhr abends sanft verschieden
. . .*
[Anbei noch eine Probe vom „TraumschreibenÄ der
Dame, die wir wiedergeben, weil der Gedanke an sich
schön und für derartige Erzeugnisse des somnambulen Unterbewußtseins
charakteristisch ist.]
„Tausende sehe ich den Kreuzweg auf Golgatha hinaufwandern
; und alle schauen trauernd rückwärts und fragen:
Warum ich? Aber niemand gibt Antwort, Auch der größte
Kreuzträger frug in der schwersten Not: „Eli, — Eli, lama
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