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t>36 Psychische Studien. XLV. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1918.)
Fließ ist der Ansicht, daß solche Fälle zeigen, wie
Eltern und Kinder von derselben Woge des Lebensrhythmus
ergriffen werden, und betont, daß auch sonst vielfach Ahnungen
auf dieser Grundlage beruhen. In derartigen Fällen
wird der Okkultist geneigt sein, Gedankenübertragung und
u. U. Hellsehen anzunehmen; es ist jedoch nicht zu leugnen,
daß in vielen Fällen die Fließ'sche Erklärung zutreffend ist,
zumal in Fällen, die nahe Verwandte betreffen. Fließ dagegen
will — so weit ich sehe — von okkultistischen Erklärungen
nichts wissen, und er betont sogar, daß, wenn man
alle Lebensäußerungen unter dem Einfluß des Lebensrhythmus
stehend ansieht, „jeder Hauch von Mystik* schwinde.
Wenn ich Fließ recht verstehe, will er mit dem Wort
„Mystik" auch den Okkultismus treffen, den ich allerdings
ganz unmystisch auffasse. Jedenfalls geht er zu weit, wenn
er glaubt mit seiner Erklärung überall auskommen zu
können. In Fällen, in denen ganz spezielle Vorgänge (womöglich
seltenere Worte oder ganz bestimmte Situationen)
bei zwei Menschen gleichzeitig im Bewußtsein auftreten,
zumal wenn die beiden nicht blutsverwandt sind, reicht
seine Erklärung bestimmt nicht aus.
Bei der kritischen Betrachtung von derartigen Fällen
wird es also nicht „entweder—oder* heißen, sondern „sowohl
—als auch*; d. h. es wird Fälle geben, in denen die
Fließ'sche Erklärung wohl zutreffen wird, und es wird andere
geben, in denen die okkultistische richtig ist. Zu betonen
ist aber, daß die Fließ'sche Erklärung kaum je exakt zu
beweisen sein wird, denn die okkultistische wird sich nicht
grundsätzlich ausschließen lassen, sondern wird immer als
möglich ,n berücksichtigen sein. Umgekehrt dagegen
wird es viele Fälle geben, in denen die Fließ'sche Erklärung
ausgeschlossen ist, und zwar dann, wenn die Voraussetzung
der Gleichheit des Lebensrhythmus fehlt, und außerdem,
wie schon erwähnt, bei beiden Individuen Erlebnisse mit
ganz bestimmten Einzelheiten vorhanden sind.
Man sieht hier wieder, mit wie vielen Gebieten der
Okkultismus in Beziehung steht und was alles zu berücksichtigen
ist, um auf diesem Gebiet zu Ergebpissen zu
kommen, die der Kritik stand zu halten vermögen.
Gerade weil ich nicht zu den negierenden Skeptikern
gehöre, sondern aus eigenen Versuchen weiß, daß es Gedankenübertragung
und Hellsehen gibt, nehme ich mir das
Recht, auf diesem Gebiete kritische Sichtung zu fordern,
die am besten schon vor der Veröffentlichung stattfindet.
Man macht immer wieder die Erfahrung, daß derartige Mitteilungen
die Außenstehenden nur allzu sehr in ihrer An-
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