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Mayer: Zweites Gesicht und Willensfreiheit. 9
Ich sehe im Zweiten Gesicht durchaus nicht etwas
eigentlich Metaphysisches, wohl aber eine Erscheinung, die
recht begriffen, an die tiefsten physikalischen oder — meinethalben
—metaphysikalischen, geheimen Wirklichkeiten hinanführt
; sie ist an sich keine „jenseitige* Wirkung, bleibt
aber für uns geheimnisvoll, weil weder unsere fünf Sinne
noch Meßwerkzeuge dabei als Kontrollorgane amten, auch
keine „Experimente* anzustellen sind und als Wahrheitsgrund
die Einsicht in große Zusammenhänge genügen muß,
wohl begreifbar, doch nicht greifbar. Aber in das Gebiet
des wesentlich Unerkennbaren gehört es nicht, was dagegen
vom Kerne jeder Erscheinung gilt, die wir ja alle
nur an ihren AeuGerungen ins Bewußtsein erheben, d. h.
erkennen, unsere tiefste Erkenntnislotung in der Natur
eicht bis zum Leid, das aber noch hüben, in der Ebene
<!er Bewußtheit liegt.T)
Was mir gar kein besonderes Problem dabei scheint,
die Seltenheit der Begabung für das Zweite Gesicht'
«iie manchmal als Einwand angeführt wird; ebenso gut
könnte man die Seltenheit künstlerischer Begabung gegen
das Kunstschaffen überhaupt anführen, die Seltenheit unmittelbarer
Menschenkenntnis'^ gegen solche Menschenerkenner
, die Seltenheit des Rutengängertums gegen deren
ratsächlichkeit. Und geht nicht auch sonst die Abweichung
in der Sinnesfeinheit zwischen den Menschen
schier bis ins Unglaubliche? Wären die Farbenblinden in
ler Mehrheit, so schienen die wenigen Farbensinnigen als
Zauberer oder Schwindler; und die Idiosynkrasie — also
lleizempfindlichkeit - für gewisse Stoffe, Gerüche und
Strahlungen sind auch seltene Einzelfälle. So ist's auch
mit der Begabung für räumliches und symptomatisches
Fernsehen. hj
Die bestechendste Irrlösung des Zweiten Gesichts ist
die, welche gewissermaßen an Kant anknüpft und so folgert
: da Dinge, die noch nicht vorhanden sind, nicht wirken
können, müssen die zukünftigen Ereignisse, die beim
Hellsehen als gegenwärtig empfunden werden, eben schon
?,an sich" gegenwärtig sein und nur uns ~~ kraft der Kantischen
bloßen Bewußtseins f o r m der reinen Sinnlichkeit,
;) S. Z. d. N Kap. XXII.
8) Unter symptomatischem Fernsehen verstehe ich die Fähigkeit, aus
Symptomen (z. B. der Handschrift) nicht gegenwärtige Zusammenhänge zu
schauen, so — wie mir ein Fall bekannt ist — die Gesichtszüge des
unbekannten Schreibers eines Briefes.
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