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Zeller: Schopenhauer und Nietzsche. BS
Beide leugnen ein Fortleben des Gehirnbewußtseins, beide
sind geradezu leidensehaf tliehe Gegner des theistischen Gottesbegriffs
. Freilieh besteht dabei trotzdem ein wesentlicher
Unterschied zwischen ihnen. Man könnte es vom okkultistischen
Standpunkt aus etwa so bezeichnen: Schopenhauer
erkennt zwar nicht den Spiritismus mit seinen Wahr-
scheinlichkeitsgrtinden für das Fortleben der Einzelseele, wohl
aber den Somnambulismus oder tierischen Magnetismus mit
seiiien Tatsachen des Hellsehens, Fernwirkens, kurz den übersinnlichen
Erscheinungen innerhalb der irdischen Sphäre des
Seelenlebens an*). Für Nietzsche, den Zeitgenossen Darwins
und Häckels, gibt es weder das eine noch das andere. Aus
den Tatsachen des Somnambulismus entnimmt Schopenhauer
wesentliche Bestimmungen dessen, was er Wille in der
Natur nennt. Der Wille baut den Körper auf, er vermag in
die Ferne zu wirken und in die Zukunft zu schauen, er ist als
Ding an sich weder an NaturkausaJität noch an die Schranken
von Raum und Zeit gebunden. Er ist dasjenige, was nach
dem Tod des Individuums allein fortlebt, was zu einer neuen
Geburt führt und das neue Leben nach dem Vorbild des
früheren aufbaut. Gelangt der Mensch durch Einsicht oder
Leiden zur völligen Abkehr vom Willen zum Leben, zu
völliger Resignation, so findet keine Rückkehr zum Leben
mehr statt, sondern ein höherer Zustand tritt ein, zu dessen
Bestimmung diese irdische Welt keinerlei Anhaltspunkte
bietet, weshalb ihn der Buddhismus rein negativ als Nirwana
, d. h. als Auslöschung oder Vernichtung (nämlich des
tanha, des Durstes nach Leben) bezeichnet. Askese, d. h.
absichtlicheErtötung des Eigenwillens, und Mystizismus oder
Mystik, d. i.(nach Schopenhauer hg. v. Grisebach bei Reklani,
IJ, 722) „ Bewußtsein der Identität seines eigenen Wesens
mit dem aller Dinge, oder dem Kern der Welt* ergeben
sich ganz von selbst .aus der von ihm geforderten Verneinung
des Lebenswillens, der jedes lebende Wesen als
stärkster Trieb beherrscht. Neben dem Ideal des Heiligen,
der seinen Eigenwillen völlig zum Opfer bringt und Ich
dadurch den Zugang zu einer höheren Welt, aus der es
keine Rückkehr mehr in diese Sphäre des Leidens und Todes
gibt, erwirbt, steht nach Schopenhauer nun noch ein «weites
diesem gleichwertiges Ideal, das des Genies, das (wie er
selbst) zwar im Charakter dem Durchschnitt der übrigen
Menschen gleicht, also natürlichen Trieben wie dem Zorn
und der Sinnlichkeit unterliegt, aber durch sein Erkennen
*) Vergl. Parerga und Paralipomena: lieber Geistersehen, und was
damit zusammenhängt.
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