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34 Psychische Stadien.! XL VI. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1919.)
der platonischen Ideen, d. h. des Grundes der Welt, und
durch Gestaltung des Erkannten mit den Ausdrucksmitteln
der Kunst und der Sprache sich an die Seite des Heiligen
stellt: Beide verkünden Dasselbe, die Wendung, die 1er
Wille von der Bejahung zur Verneinung des Lebens nimmt,
als den wesentlichsten Inhalt des menschlichen Leben**,
der eine durch das Beispiel seines Charakters, der andere
durch Entwerfung eines anschaulichen, eindrucksvollen Weltbildes
in Kunst und Philosophie. Es ist demnach ein
doppeltes Ideal, das Schopenhauer uns zeichnet, das de*
Heiligen und das des Genies, beide sich dem Wert nach
gleichstehend, beide im Grund dasselbe verkündend und
beide doch in der Ausführung verschieden. Es hegt nun
nahe, hier anknüpfend einen Schritt über Schopenhauer
hinauszugehen. Setzen wir das Ziel, das er steckt, mehr in
erreichbare Nähe und gestalten wir es dafür einheitlich, so
ergibt sich die Forderung, zwei Typen, die sich bisher vielfach
fremd oder feindlich gegenüberstanden, den des Frommen
und den des Gebildeten, zu einem höheren, die Gegensätze
verbindenden Dritten zu verschmelzen. Es bleiben die
beiden Ideale der Willensverneinung und der Erkenntnisbejahung
, wie man das Anschauen der platonischen Ideen
auch kurz bezeichnen könnte, beide gleichwertig, aber nicht
in zwei getrennten Typen, dem des Affigen unfdes Genies,
sondern von jedem einzelnen nach Maßgabe seiner Kräfte
in einer und derselben Persönlichkeit zu verwirklichen.
Aber indem wir diese beiden Ziele als höchste, einander
gleichstehende Lebenswerte, die für jeden einzelnen verbindlich
sind, aufstellen, tun wir, so klein die Änderung: zu
sein scheint, einen gewaltigen Schritt vorwärts, einen Schritt,
den uns eigentlich* erst Nietzsche gehen gelehrt hat. E^
ist es, der dfn selbständig denkendenVnscLn gewiesen hat,
kraft seines autonomen Willens als Gesetzgeber, um mich
Kantischer Ausdrucksweise zu bedienen, umfassende Werte,
denen sich andere Werte als Mittel zum Zweck unterzuordnen
haben, oder anders ausgedrückt, Normen, die das
gesamte Leben umgestalten sollen, zu schaffen. Durch dieses
lühne „Ich aber sage Euch« hat er den Einzelnen zum
Schaffen von Lebenswerten und damit zur Begründung
einer seinem Wesen entsprechenden Ethik ermutigt. Jeder
wird sein eigener Gesetzgeber unter schärfstsr Abweisung
einer außerhalb des eigenen Ich liegenden höheren Autorität.
Damit hat Nietzche eine Entwicklung zu Ende geführt,
die mit Luthers Kampf gegen die päpstliche Autorität und
seiner Berufung auf das eigene Gewissen beginnt und weiter-
hin über Lessing, Kant und Schopenhauer führt. Er ist
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