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36 Psychische Studien. XLVL Jahrg. 1. Heft (Januar 1919.;
predigen, bloßzulegen. Eine mehr unbewußte Annäherung
an die Mystik können wir vielleicht in seiner Lehre von
der ewigen Wiederkunft aller Dinge erblicken. Aber jedenfalls
eine bewußte Erfassung übersinnlicher Tatsachen des
seelischen Lebens blieb ihm vollkommen verschlossen. So
ist seine Philosophie nach ihrem materialen Ertrag, vom
Standpunkt des Okkultismus aus gesehen, eigentlich nur
ein großer Fehlschlag. Seine einseitige Lebensbejahung,
der Grundstein seiner Lehre, beruht auf emeni tragischen,
in der ausschließlichen Diesseitsorientierung des damaligen
Materialismus begründeten Irrtum. Dauernden Wert dagegen
dürften die formalen Elemente seines Philosophierens,
seiner Betonung des intellektuellen Wahrheitsgewissens als
höchster sittlicher Pflicht und das Beispiel, das er durch
sein autonomes Werteschaffen, sein „Ich aber sage Euch*,
gegeben bat, haben. In diesen beiden Punkten wird er
wohl dauernd vorbildlich bleiben.
Hätte Nietzsche den Okkultismus als Wissenschaft gekannt
, so hätte er gewiß den Jenseit-siandpunkt zu seinem
vollen Recht kommen lassen, >o wie er auch der Entwicklungslehre
eine hervorragende Stelle in seine»- Philosophie
eingeräumt hat. Ob er soweit gegangen wäre, die beiden
Elemente der Wirklichkeit, Diesseits und Jen>u*^ und damit
modernes Bewußtsein und Mystik als gleichwertig auf
dieselbe Stufe zu stellen, ist natürlich fraglich. Aber jedenfalls
, achtlos vorbeigegangen wäre er an diesem Problem
nicht. Gerade das Aufstellen neuer, bisher unbeachteter
Probleme ist ja eines der Hauptverdienste seiner Philosophie.
Passen wir das bisher Ausgeführte kurz zusammen, so
scheint der wissenschaftliche Okkultismus in eine philosophische
Ethik ausmünden zu wollen, die etwa mit der
Formel*) bezeichnet werden kann; Willensverneinung und
Erkenntnisbejahuug als gleichgeordnete Hauptwerk und
Ziele des menschlichen Strebens. An der Gestaltung dieser
Formulierung ist sowohl Schopenhauer als auch Nietzsche,
jeder auf seine Weise, beteiligt. Beide erscheinen freilich
als einseitig, aber es ist eine Einseitigkeit, die z. T. durch
das Fehlen eines ausgebauten wissenschaftlichen Okkultismus
verursacht wird. Hoffentlich ist die Zeit nicht mehr fein,
wo modernes Denken auf der Grundlage des Okkultismus
die Synthese mit der Mystik vollzieht, sodaß Wissen un<i
Glauben, die sich bisher so oft bekämpften und sich auch
*/ Als Maxime au .««gedrückt: Wolle vom Standpunkt des Selbst und
erkenne vom Standpunkt des Ich aus. Dadurch ist der christlichen Ethik
und dem modernen, in Wissenschaft und Kunst sich entfaltenden Kulturleben
in gleicher Weise Rechnung getragen,
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