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Gerhardt : Das Ferngefühl des Blinden.
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Der Uneingeweihte wird uns hier einwenden, daß im
vorliegenden Fall von einem eigentlichen »Ersatzsinne*
picht die Rede sein könne, weil doch nicht nur der Blinde
zu hören vermöge, sondern das Gehör ein Allgemeingut
sei. Dem soll auch keineswegs widersprochen wefden, dfeh
müssen wir ausdrücklich darauf hinweisen, daß zwischen
Hören und Hören ein wesentlicher Unterschied besteht.
Gewiß hört der Sehende wahrscheinlich ebenso scharf, wie
der Blinde, aber er ist es nicht gewöhnt, seine ganze Aufmerksamkeit
auf die Gehörswahrnehmungen zu konzentrie-
ren, weil er sich fast ausschließlich auf das Auge verläßt.
Das Gehörte hat für ihn gewissermaßen nur eine sekundäre
Bedeutung, wenigstens soweit es sich für ihn um das Sammeln
von Eindrücken, Erkenntnis, handelt. Bei dem Blinden
verhält es sich dagegen völlig anders. Sehwahrnehm-
ungen existieren für ihn nicht, das Bedürfnis aber, sich ein
möglichst zutreffendes Bild von der Außenwelt zu machen,
ist ein zwingendes, so daß für ihn kein Organ sekundär
wird, sondern er jedes einzelne so intensiv als möglich anspannt
, um aus ihren Gesamtleistungen ein tunlichst befriedigendes
Resultat zu gewinnen.
Das bisher Gesagte wird sofort klar und verständlich,
wenn wir uns einem Spezialfall zuwenden und damit auf
das eigentliche Thema unserer Arbeit zu sprechen kommen.
Die größte Schwierigkeit, die durch das fehlende Augenlicht
bedingt wird, besteht unverkennbar in der beschränkten
Bewegungsfreiheit. Fast unerträglich ist vielen der
Gedanke, bei allen ihren Wegen und Gängen von der Hilfe
eines sehenden Führers abhängig zu sein, die außerdem
nicht einmal jederzeit und in gewünschter Gestalt zur Verfügung
steht. Auch spielt der Umstand eine nicht unwesentliche
Rolle, daß ein solcher Führer immerhin eine
gewisse Rücksichtnahme erfordert, indem sich der Geführte
manchen Eigenarten desselben anpassen muß, ihm die Wahl
des zu begehenden Weges zu überlassen hat, oder sich
moralisch verpflichtet fühlt, mit ihm eine Unterhaltung zu
pflegen, selbst wenn ihm die eigene Stimmung gar nicht
danach steht. Wenn ja auch der Blinde im Laufe der
Zeit in diesen Dingen eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit
gewinnt und sich daran gewöhnt, diese unvermeidlichen
Unbequemlichkeiten mit in den Kauf zu nehmen, so wird
doch ein bestimmtes seelisches Unbehagen niemals ganz
schwinden, das in dem sehnlichen Wunsch gipfelt, sich,
wenn irgend möglich, von der Notwendigkeit fremder Begleitung
zu emanzipieren. Der erwachsene Blinde empfindet
die sehende Begleitung gleichsam als eine Bevormun-
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